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Die Systemtheorie hat es schwer mit räumlichen Begriffen wie Raum, Feld oder Ort. Zumindest dann, wenn man unter Systemtheorie die Luhmannsche Theorie sozialer Systeme versteht. Hier spielen räumliche Begriffe und Kategorien bewusst keine Rolle. Der „spatial turn" in den Gesellschaftswissenschaften ging daher auch an der Systemtheorie spurlos vorbei. Der Aufsatz soll zeigen, dass es ein alternatives Systemverständnis durchaus geben kann, welches die „Wende zum Raum" und sogar hin zum "Ort" bzw. "Feld" mit vollzieht.

Systemmodelle

Grundlegend kann man zwei verschiedenen Systemmodelle unterscheiden: operative und retive. Operative Systemmodelle sind Modelle, die sich an dem Muster der Kette orientieren, und zwar an einer Kette von einander anschließenden typgleichen Operationen. Retive Systeme sind Modelle, die sich an dem Muster des Netzes (lat. rete) orientieren, und zwar eines Netzes von Akteuren, die miteinander in Beziehung stehen.
Operative Systemmodelle, haben deshalb Probleme räumliche Eigenschaften hinreichend zu würdigen, da Operationen nur an anderen typgleichen Operationen anschließen können, aber der Ort einer Operation keine Rolle spielt. Operative Systemmodelle sind daher stets blind für den Raum.
Retive Systemmodelle sind relativ simpel, und der Gedanke an ein Netzwerk von Akteuren ist natürlich wohlbekannt. Daher ist auch gut einzusehen, dass netzartige Modelle räumliche Eigenschaften hinreichend würdigen können. Wichtig ist nur, dass ein retives Systemmodell primär ein Netzmuster darstellt, das weder auf die Relationen noch auf die Akteure darin zurückgerechnet werden kann.

Spatial Turn

Der „spatial turn" der Gesellschaftswissenschaften hat sich allmählich ereignet, und verlangt nach einem Ende der Raumblindheit, wie sie noch zu Beginn der 1990er Jahre diagnostiziert wurde (Läpple 1991: 163, Dangschat 1994: 341). Im Wesentlichen geht es um eine Kritik am absolutistischen Raumverständnis, das den Raum stets als „Behälter" versteht. Raum ist demnach unabhängig von den Elementen darin. Doch schon Simmel distanziert sich von dem Gedanken, dass man sich einen Raum als etwas vorstellen kann, „in das die Dinge hineingestellt würden, wie Möbel in ein Zimmer." (Simmel in Glauser 253) Vollzieht man den „spatial turn" weg von einem absolutistischen hin zu einem relativistischem Raumverständnis, dann ist sozialer Raum etwas, dass durch soziale Akteure entsteht.

Spatial Turn in der Systemtheorie

Will man den „spatial turn" auch in der Systemtheorie beschreiten, dann ist der erste Schritt die Hinwendung zu retiven Systemmodellen, welche im Gegensatz zu operativen Modellen überhaupt räumliche Eigenschaften haben können. Als zweiter Schritt stellt sich die Frage, welche räumliche Variationsmöglichkeiten in retiven Systemmodelle überhaupt denkbar sind. Denn wenn es nur eine Art der Räumlichkeit gibt, dann ist mit dem Schritt hin zu retiven Systemmodellen schon alles getan, und damit der „spatial turn" in der Systemtheorie bereits vollzogen. Und hier genau beginnt es interessant zu werden: Eine sich über das absolutistische Raumverständnis entwickelte relativistische Räumlichkeit kann auf zwei verschiedene Arten verstanden werden: entweder relational oder topisch.

Relationales Raumverständnis

Relativistische Raumverständnisse sind in der westlichen Philosophie stets relational gewesen, d.h. der Raum wird in Abhebung von dem absolutistischen Behälterraum-Modell als Relationsordnung beschrieben. So geschehen bei Leibniz, der sich von Newtons absoluten Raummodell absetzte, indem er den Raum als relationale Ordnung begreift. Leibniz versteht den Raum als „Inbegriff aller erfahrbaren relationalen Lagebeziehungen des gleichzeitigen Nebeneinanders möglicher materieller Stellen", und bildet damit die Basis für ein modernes Verständnis des Raumes als netzartiges Relationsgefüge. In diesem Verständnis entsteht der Raum erst durch die Ausbildung und stetige Aktualisierung eines Relationsnetzes. Diesem Raumverständnis entspricht das Modell eines retiven, polyzentrischen Systems, wie es an anderer Stelle vorgeschlagen wurde. Polyzentrisch deshalb, da das verbindende Element der netzartigen Struktur die vielen verschiedenen Zentren sind, und Relationen auf direktem Wege zwischen den verschiedenen Knoten stattfinden. Soziologisch haben diese relationalen Raummodelle vor allem in der netzwerkanalytischen Schule Verbreitung gefunden, in der soziales Geschehen als Ausbildung netzartiger Strukturen verstanden wird.

Topisches Raumverständnis

Neben einem relationalen Raumverständnis, wie es für die westliche Moderne kennzeichnend ist, soll auch ein weiteres Raumverständnis aufgezeigt werden, das im Folgenden als topisches Raumverständnis bezeichnet und als Feld ausgelegt wird.
Ein topisches Raumverständnis beruht auf einem sozial erlebbaren Raum, welcher als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. Im Unterschied zum rein relationalen Raumverständnis wird der Raum nicht primär als ein Relationsgefüge verstanden, sondern vor allem als ein durch die Raumpunkte aufgespanntes Feld. Versucht man die Verbindung der Raumpunkte dennoch über Relationen abzubilden, dann erhält man „topische Relationen", die im Unterschied zur direkten gerade Verbindung zweier Raumpunkte „über das Feld laufen" und daher als zwei sich schneidende Geraden visualisiert werden können.
Die Feld-Metapher des Raumes soll verdeutlichen, dass die Raumpunkte selbst vom Raum durchdrungen werden können, d.h. das Verbindende zugleich das Durchdringende ist. Deshalb liegt auch die Schwingungs- und Resonanz-Metapher nahe, denn die Vorstellung, dass Schwingungen Raumpunkte durchdringen, welche damit in Resonanz geraten, ist physikalisch greifbar.
Ein derart topisches Raumverständnis ist insbesondere in Japan entwickelt worden, wo die Philosophie des Felds bzw. Ortes eine viel längere Tradition hatte wie bei uns. Doch umso erstaunlicher ist es, wenn sich auch in der westlichen Tradition Stimmen finden lassen, die ein ähnliches Raumverständnis erkennen lassen. Gosztonyi fasst nach seiner über tausendseitigen philosophischen Untersuchung über den Raum seine Position gerade in Absetzung zu zahlreichen klassischen Positionen wie folgt zusammen: „Raum ist ‚reine Konduktivität'." „Er ist - auch methodisch - von der ‚Schwingung' nicht ‚abtrennbar', das heißt aber, er ist ‚Schwingung'." Mit der Schwingungsmetapher versucht auch er deutlich zu machen, dass der Raum zugleich den Menschen durchdringen kann: „... der Raum ... wirkt nämlich in ihm - und nicht etwa ‚um' ihn - und zwar als Spannung, der der Mensch ununterbrochen ausgesetzt ist."
Sucht man in der westlichen Soziologie nach Anschlussmöglichkeiten für ein topisches Raumverständnis, dann darf neben Kurt Lewin und seinem Schüler Junius Brown sicher auch Pierre Bourdieu nicht fehlen, der mit der Berufung auf den Feldbegriff eine radikale Wendung in der Sozialwissenschaft fordert: „Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkehrung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich an sichtbaren Dingen festmacht ... In der Tat: Wie die Newtonsche Gravitationstheorie nur im Bruch mit dem Cartesianischen Realismus, der keinen anderen Modus physischer Aktionen als den Stoß, den direkten Kontakt, anerkannte, zu entwickeln war, so setzt auch der Feld-Begriff einen Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung reduziert."
Gerade weil sich für Bourdieu das Feld nicht auf die darin sich vollziehenden Interaktionen reduzieren lässt, fordert er, das Feld als eigene Wirkungsgröße zu beachten und in den „Mittelpunkt der Forschungsoperationen" zu stellen. Mit dieser Forderung reiht sich Bourdieu ein in das soziologische Bemühen um die Weiterentwicklung eines topischen Raumverständnisses. Mit den Beispielen von Gosztonyi und Bourdieu sollte nur auszugsweise angedeutet werden, dass es auch in der westlichen Philosophie und Soziologie - wenn auch aus unterschiedlichsten Motiven - Annäherungen an ein topisches Raumverständnis gibt, das sich vom relationalen Raumverständnis deutlich unterscheidet.

Topological Turn in der Systemtheorie

Ein Systemmodell, dass auf einem topischen Raumverständnis beruht, ist also angedeutet. Es unterscheidet sich deutlich von Sytstemmodellen, die auf einem relativistischen Raumverständnis fußen, und wo der Raum zwischen den Knoten leer ist. Topische Systeme kann man sich auch als Felder visualisieren, in denen es bestimmte Verbindungsbahnen gibt, aber nur selten auf direktem Weg. Eine Systemtheorie, die sich topischer Modell bedient, kann daher auch als Feldtheorie weitergeführt werden. Insofern verursacht der topological Turn in der Systemtheorie eine Annäherung von Sytem- und Feldtheorie, mit ihr je eigenen Logiken. Wie diese Begegnung ausgeht, muss hier noch offen gelassen werden. Aber die Notwendigkeit einer solchen Begegnung ist schon mit dem „spatial turn" eingeleitet.

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