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Original: http://home.worldcom.ch/~negenter/470Doitsuni_HTx_D01.html

SHIN NO MI-HASHIRA

Der erhabene Zentrumspfeiler der japanischen Welt

Von Nold Egenter

Der ursprünglich veranschlagte Titel war:
OTTO FRIEDRICH BOLLNOW UND DIE SICHERUNG DES FRÜHEN SIEDLUNGSRAUMS
Kulturanthropologisch vergleichende Hinweise zum Phänomen "sakraler Raum" in Japan

EINLEITUNG: ZUR PROBLEMATIK DES RAUMES

Raum ist, neben der Zeit, die wichtigste Kategorie der humanen Existenz, damit auch Grundkategorie des Wahrnehmens, Denkens und Ordnens. Entsprechend ist der Begriff Raum auch in zahlreichen Disziplinen der Kulturforschung von gleichsam strategischer Bedeutung. Machtvolle Weltbilder bauen auf Raumvorstellungen auf. Es ist beispielsweise fŸr unsere Weltsicht eine hšchst entscheidende Sache, ob wir altphilologisch etwa einen babylonischen Schšpfungsmythos mit einem metaphysischen Raumkonzept Ÿbersetzen oder ihn unter der Voraussetzung eines anthropologisch begrŸndeten Umweltkonzeptes angehen. Im einen Falle berichtet uns der Text von der Schšpfung der Welt, heute selbstverstŠndlich im kosmologischen Sinne, im zweiten Fall beschreibt der gleiche Text eine antike Siedlungs-, Stadt- oder ReichsgrŸndung <1>.

Damit ist auch bereits angedeutet, was die Diskussion des PhŠnomens Raum in der europŠischen Geistesgeschichte philosophisch und wissenschaftlich seit den Vorsokratikern in Atem hŠlt. Es ist jene eigenartige VerschrŠnkung, die sich jeder prŠzisen Definition entgegenstellt: die VerschrŠnkung zwischen dem Nahen, dem subjektiv Erlebten und umweltlich Bestimmten des Raums und seiner sich der Erfahrung entziehenden, endlos ausufernden Ausdehnung in immer weitere und unabsehbarere RŠume der Welt und des Kosmos.

Bei Alexander GOSZTONYI (1976), der im deutschen Sprachbereich wohl die umfassendste europŠische Geschichte des Raumproblems zusammengetragen hat, spiegelt sich diese VerschrŠnkung ganz handfest in zwei BŠnden. Der erste schildert jenes Ÿber zweitausendjŠhrige europŠische Ringen mit der ŸberwŠltigenden Dimension der grossen RŠume - bald mehr philosophisch, metaphysisch oder theologisch, bald mehr mathematisch, geometrisch, physikalisch. Der zweite Band befasst sich mit dem erst neuzeitlich spŠt einsetzenden, entgegengesetzt systematischen Fragen nach dem Raum vom Menschen her. 'Sinneswahrnehmung und Raum', der 'Raum in der modernen Philosophie' (wobei die phŠnomenologische Methode eine wichtige Rolle spielt), und 'Raum als Struktur', dies sind die wichtigsten Themen des zweiten Bandes.

GOSZTONYIs ausserordentlich aufwendige Kompilation zeigt deutlich, dass die engrŠumliche Frage vom Menschen aus eine moderne ist. Ueber Jahrhunderte hat man den Raum nicht etwa vom Blickpunkt des Menschen her eršrtert, sondern ihn vielmehr mit Metaphysischem verbunden. Man hat ihn platonisch mit dem hšchsten Wissen belegt, scholastisch-neuplatonisch mit dem Absoluten, dem Gšttlichen identifiziert. Heute dominiert immer noch dieses grossrŠumliche Faszinosum, allerdings meist eher in seiner naturwissenschaftlichen AusprŠgung: der in Lichtjahren gemessene Kosmos der Astronomie beeindruckt uns.

Die Jahrhunderte zŠhlende BeschŠftigung mit den metaphysisch weit gespannten RŠumen spielt auch heute noch in jedermanns abendlŠndischen Alltagsraum mit hinein, sei es ethisch-religišs, psychologisch oder philosophisch, letztlich auch politisch und aesthetisch. Doch lŠsst sich nun wiederum aus der erwŠhnten VerschrŠnkung philosophisch die Frage stellen, ob dieses Aufsteigen zum Hšchsten, dieses Jahrhunderte alte Feld der Meta-Physik, das 'trans-cendente' idelle Werte mit immer je oberen SphŠren belegt, wiederum selbst ein umweltliches Raumschema ist, dessen Wurzeln in der menschlichen Vergangenheit liegen. Plausible Argumente gibt es durchaus, etwa die eigenartigen kosmologischen Spekulationen mancher Vorsokratiker, die sich deutlich an vorderorientalische Kulttraditionen anlehnen (z.B. Anaximanders Welt-SŠule). Oder die recht klar in der Niltal-Topographie verankerte altaegyptische Metaphysik. Recht eindeutig gilt das auch in der Geschichte der Kartographie <2> und in wortgeschichtlichen Beziehungen, etwa zwischen 'Kosmos und Kosmetik'. <3>

Entscheidet man sich fŸr Letzteres, so tritt etwa die kosmisch gelagerte platonische Ideenlehre in den Bereich antiker Spekulation. Das wŠre fŸr europŠisches Denken gravierend. In der mittelalterlichen Scholastik wurde aus absehbaren Motiven <4> ein absoluter Idealismus in unser abendlŠndisch-"geisteswissenschaftliches" Denken eingebaut, der, bloss rationalistisch begrŸndet und mit historistischen Konstruktionen durchsichtig gestŸtzt, fŸr den abendlŠndischen Menschen ungeheure Folgen hatte und hat. In unserem Zusammenhang gilt dies vor allem im wissenschaftlichen Umgang mit nicht-europŠischen Kulturen, die - wie etwa Japan - nie diesem scholastischen Absolutismus unterworfen waren.

KULTUR-RAUMFORSCHUNG IN JAPAN

Die Frage nach dem VerhŠltnis des Menschen zum Raum hat somit weltanschaulich Konsequenzen. Zum Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre hatte sich an der Architekturabteilung der UniversitŠt Kyoto ein Forschungszentrum gebildet, das man am treffendsten den >Kyotoer Kreis der Kultur-Raum-Forschung< nennen kšnnte. Dieser Kreis war vorerst eher architekturtheoretisch getragen von der damals in Europa verbreiteten Auffassung, die Basis der Architektur- und Raumplanung seien von Grund auf theoretisch neu zu begrŸnden (MITSCHERLICH 1965, NORBERG-SCHULZ 1963, 1971, RAPOPORT 1969). Den fixen Kern dieses Kreises bildete der Lehrstuhl von Prof. Tomoya MASUDA (1978) und seine Abteilung (KATO, TAMAKOSHI, TANAKA). Man orientierte sich wesentlich an den phŠnomenologischen Arbeiten der westlichen Philosophie zum Thema Raum (BACHELARD 1958, 1960; HEIDEGGER 1927, 1954; BOLLNOW 1963) und behandelte mit dieser neuen Optik Themen der Architektur und Kunst im japanischen Kulturraum. Den flexibleren Šusseren Kreis bildeten ausgebildete Architekten meist europŠischer Provenienz, die sich nach Studienabschluss vom Ÿblichen Weg zur Entwurfs-Praxis und Planung abgewandt, sich der Forschung und Lehre verschrieben hatten <5>. Die Arbeiten einiger dieser Forscher bilden heute in der inzwischen enorm angewachsenen DomŠne der Architektur- und Raumforschung <6> eine stark auf Japan bezogene Linie, die im Feld zwischen Architektur, Raum und Kultur vornehmlich kulturvergleichend-anthropologische Gesichtspunkte aufbaut. <7>.

SekundŠr wurden aus dieser intensiven BeschŠftigung mit Raum und Kultur Japans auch bewusst, dass Japan kulturanthropologisch eine einzigartige Situation fŸr die Erforschung der Raumproblematik im kulturellen Zusammenhang darstellt. Es trat relativ spŠt in den kontinentalen Hochkulturkreis, wurde nie wesentlich kolonialisiert noch christianisiert, konnte so einen erstaunlichen Reichtum an agraren Traditionen bewahren, die oft deutlich tief in vorgeschichtlichen Dorfkulturen wurzeln. Auch verlief seine Geistesgeschichte in ganz anderen Linien als die europŠisch-westliche, was sich in seinem VerhŠltnis zum Raum niederschlŠgt. Im Zuge solcher Gesichtspunkte ist Japan im weiteren Sinne auch eine ungemein wertvolle Vergleichskultur zur europŠischen Situation geworden. Ja es kann geradezu zum PrŸfstand fŸr europŠische Kultur-Theorien werden, was wir im Folgenden mit der Skizzierung einer Raum-Theorie andeuten mšchten, die im Kyotoer Kreis von entscheidender Bedeutung war - der anthropologische Raum Otto Friedrich BOLLNOWs. Die darauf folgend angefŸhrten Ergebnisse aus Untersuchungen des Autors zum PhŠnomen >Sakraler Raum in Japan< kšnnen nur auf der Grundlage dieser theoretischen Gesichtspunkte verstanden werden.

O. F. BOLLNOW: MENSCH UND RAUM

Methodologisch steht BOLLNOWs Buch >Mensch und Raum< (1963) durchaus jener erwŠhnten Gruppe philosophischer Arbeiten zum Raum nahe, die phŠnomenologisch deskriptiv verschiedene Aspekte des Raumbegriffes eršrterten. BOLLNOW bringt jedoch eine spezifische Systematik in die Diskussion, indem er historisch, phŠnomenologisch-anthropologisch und ethnologisch das Wohnen ins Zentrum setzt, dieses rŠumlich als "Fixpunkt" behandelt und andere RŠumlichkeiten (Weite, Wege usw.) in polaren Beziehungen dazu beschreibt. Der Mensch ist - oder bewegt sich - in diesem System und erzeugt so unzŠhlige anthropologische "RŠume". Das Entscheidende ist, dass dieses System sich nicht mehr abstrakt versteht, wie das herkšmmlich homogene RaumverstŠndnis der Physik. Es bleibt immer substantiell und qualitativ gebunden an umweltlich oder kulturell vorgefundene Bedingungen. Das wichtigste Element dieser substantiell verschrŠnkten Konzeption des Raumes sind das Bauen, das Haus und andere bauliche Markierungen der menschlichen "Mitte der Welt".

Neben einem ungeheuren Reichtum synchroner Beobachtungen bringt BOLLNOW auch diachrone Tiefen, vor allem die beiden Thesen, dass der Begriff Raum im Deutschen ursprŸnglich im menschlichen Siedeln beheimatet war und dass der kosmisch weite Raum in Europa ein spŠte Entdeckung des 14. Jhdts. ist. Dies sind fŸr den, der die Implikationen des Raumes im wissenschaftlichen Wissen erfasst, ganz allgemein Thesen von ausserordentlicher Bedeutung, ja - im Sinne Thomas Kuhns - eine wissenschaftliche Revolution. Vieles deutet darauf hin, dass sie in einer Trendlinie liegen, die zu einer 'Implosion' des theoretischen GefŸges der Humanwissenschaften fŸhrt, wie dies sich vergleichbar mit dem Begriff Oekologie in den Naturwissenschaften bereits abzeichnet. Gewinnt diese Linie an Grund, so dŸrfte BOLLNOWs Werk einst als eine der philosophisch wichtigsten europŠischen Leistungen der zweiten HŠlfte des 20. Jahrhunderts gelten. Da BOLLNOW zuweilen sehr oberflŠchlich interpretiert, gar als New-Age-Leistung eingestuft wird (s. Klappentexte des Buches), geben wir hier eine geraffte Darstellung dieses ausserordentlich wichtigen Werkes. <8>

Die elementare Gliederung des Raums
Die Etymologie des deutschen Wortes Raum legt nahe, dass Raum ursprŸnglich begrenzt verstanden wurde. Grimm leitete es von der entsprechenden Verbalform "rŠumen" ab, im Sinne des RŠumens eines Teils von Wildnis mit der Absicht, sich dort niederzulassen, eine Wohnung zu errichten. BOLLNOW gibt zahlreiche Beispiele zum Alltagsgebrauch verwandter Begriffe, zeigt, dass die Wurzeln des Wortes eng bezogen sind zum Wohnen, zur menschlich geordneten Umgebung. Entsprechend bezieht sich das Wort Raum, mit bestimmtem oder unbestimmtem Artikel gebraucht, z. B. als verallgemeinerter Begriff fŸr die RŠume eines Hauses, auf Bauten. In diesem Sinne gebraucht, ist Raum unvereinbar mit Orten im Freien (Z.B. Versammlungsorten). Auch ohne Artikel gebraucht, erscheint es in enger Beziehung zur menschlichen Umgebung, meist in der Bedeutung von Bewegungsraum zwischen Dingen oder Objekten. Erst sekundŠr bezieht sich das Konzept des Raums auf ausgedehnte Bedeutungen ("raume", d.h. offene See; "Weltraum" etc.).

Besonders wichtig ist die Einsicht in die Existenz von Null- und Fixpunkten im humanen Raumkonzept. Die PolaritŠt von 'weggehen' und 'zurŸckkommen' nach angestammten Orten (Heim) oder temporŠren Nullpunkten (Hotelraum in einer fremden Stadt) spielt eine grundlegende Rolle im subjektiven Orientierungssystem. BOLLNOW nennt dies die "Mitte des Raums". <9> "Wenn wir die Wohnung wechseln, so baut sich von der neuen Wohnung aus die Welt in einer neuen Weise auf." (:58)

Das fundamentale Konzept der 'Fixpunkte' wird dann in triangularen Beziehungen zwischen Individuum, Sozialem und dem hierarchischen System von Markierungen zentraler Punkte (Wohnung, Kirche, Markt, Stadt- und Staatszentrum) behandelt. BOLLNOW gibt altŸberlieferte Konzepte, die Fixpunkte als Markierung der "Mitte der Welt" oder der "Weltachse" (axis mundi) interpretierten. Konkrete Symbole kennzeichneten in verschiedenen Kulturen zentrale Fixpunkte (Pfeiler, PalŠste, HeiligtŸmer, heilige Berge). Mit Bezug auf HABERLAND (1957) und BRUNNER (1957) interpretiert er PhŠnomene dieser Art polar als Spannungen zwischen bewohntem Raum und umgebendem Chaos. In scharfem Kontrast zu ELIADE <10> charakterisiert er sie als begrenzter Raum. Dieser Teil, der zahlreiche Beispiele von symbolischen Fixpunkt-Markierungen behandelt, ist Šusserst wichtig, da er im Keim eine Ethnologie des sakralen Raumes skizziert.

Andere Richtungssysteme sind die vier Himmelsrichtungen, die in verschiedenen Kulturen ganz verschieden interpretiert worden sind (FROBENIUS 1933 goldene Pfeiler, die den Himmel stŸtzten). Mit Bezug zu JENSEN (1947) erwŠhnt er den Fluss als zentrales Orientierungssystem, das auf horizontaler Ebene wichtige Kategorien (aufwŠrts - abwŠrts, links - rechts) mit Bezug zu dem von den Bergen zu Seen oder zum Meer fliessenden Wasser vorsieht. Solche Richtungssysteme sind zuweilen fŸr das moderne RichtungsverstŠndnis recht verwirrend, sie werden jedoch sinnvoll, wenn man Raum-entwicklungstheoretisch Flussysteme gegenŸber der kosmischen Orientierung als primŠr veranschlagt. Auch mit diesen Beschreibungen gibt BOLLNOW zahlreiche wertvolle Hinweise zu einem ethnologischen Raum-Forschungsprogramm.

Die weite Welt
Raum im menschlichen Sinne hat sich entwickelt. Enorme VerŠnderungen ereigneten sich zu Beginn der europŠischen Neuzeit. Der Dichter Petrarca besteigt 1336 die Spitze des Mont Ventoux und beschreibt die grandiose Erfahrung der endlosen Weiten des Himmels. BOLLNOW bringt diese entscheidende VerŠnderung zusammen mit dem was spŠter folgt: die Entdeckung der planetarischen Mechanik, der Wechsel vom geozentrischen zum kosmischen Weltbild, der plštzliche Mut auch, die Ozeane zu Ÿberqueren, sich von der frŸheren KŸstenschiffahrt abzuwenden, aufs offene Meer zu wagen. Ergebnisse dieses neuen Raum-Bewusstseins: die Entdeckung Amerikas und die seltsamen Denk-Spuren, die dies zurŸckliess (West-Indien), auch, die Entdeckung zahlreicher, ferner und exotischer Kulturen. Kurz: das Zeitalter der Entdeckungen.

Die meisten sind heute mehr oder weniger vertraut mit diesem gewaltigen Ideenwandel, der natŸrlich im modernen Fortschrittsdenken integriert ist. Aber kaum jemand denkt darŸber nach, was dies im Hinblick auf die andere Seite der Entwicklung, jene der Voraussetzungen bedeutet. BOLLNOWs fundamentale Einsicht: als menschliche Perzeption war Raum ursprŸnglich eng mit der Siedlung, mit der Geschichte des Wohnens verwoben und entwickelte sich in der Folge durch die Ausdehnung der rŠumlichen Wahrnehmung des Menschen. Es dŸrfte einleuchten, dass diese neue Raumthese zahlreiche idealistische oder metaphysische Einstellungen westlichen Denkens grundsŠtzlich in Frage stellt.

Das Haus und das GefŸhl fŸr Sicherheit
Hatte der erste Teil von der Entwicklung der engrŠumlichen Umgebung des Menschen eher theoretisch gehandelt, so wird BOLLNOW jetzt zum gleichen Thema konkret. Das Haus wird diskutiert, Architektur kommt zur Sprache. Das Haus wird als Zentrum der Welt geschildert. Das mythische Bild einer lokalen Weltachse sei aufgegeben worden, aber Weltmitte blieb weithin erhalten auf der Ebene des Hauses. Nur als Wohnender kšnne der Mensch sein eigenes Wesen finden und im vollen Sinne Mensch sein. Im gesamten Kontext menschlichen Lebens postuliert BOLLNOW die "anthropologische Funktion des Hauses". Die moderne Gesellschaft mŸsste sich heute wieder bewusst werden, dass Wohnen eine grundlegende Bedingung des Menschen ist.

Enge Beziehungen bestehen zwischen heiligem Raum und dem geschŸtzten Raum des Hauses. Die individuelle und soziale Kontrolle Ÿber die private SphŠre spielt eine zentrale Rolle. Der Privatraum ist gesetzlich geschŸtzt. Haus und Tempel sind wesentlich eins. Ein ausserordentlich wichtiges Element in BOLLNOWs anthropologischer Betrachtung des Hauses ist das Bett als Ort nŠchtlicher Ruhe. Am Morgen ist es der Ausgangspunkt zur Arbeit im Aussen, abends ist es der RŸckkehrspunkt nach einem beschŠftigten Tag. Es die intimste DomŠne des Hauses oder einer Wohnung. Der tŠgliche Zyklus des Gehens und Kommens wiederholt sich auf der Ebene des Lebenszyklus. Der Mensch wird gewšhnlich in einem Bett geboren, verbringt die dunkle HŠlfte des Lebens dort und wird in einem Bett sterben.

Die kulturellen AusrŸstungsgegenstŠnde zeigen sich eng bezogen auf physische PolaritŠten des Menschen, stehen und liegen, physische AktivitŠt und Ruhe, Muskelspannung und deren Entspannung, bewusste Wahrnehmung der Umgebung und Aufgabe aller sinnlichen Beziehungen im Schlaf. All diese polaren Beziehungen sind von Bedeutung. SorgfŠltig werden auch Uebergangsstadien beschrieben, so etwa das Aufwachen und das Einschlafen. Genaue Beobachtungen Ÿber die tŠgliche Rekonstruktion der persšnlichen Raumwelt und deren Auflšsung im unbewussten Zustand des Schlafens in der Nacht, machen die Faszination dieses von einem tiefen Humanismus gekennzeichneten Buches aus.

In zwei weitern Kapiteln entwickelt BOLLNOW zwei weitere, sehr wichtige Konzepte, den Wegraum (hodologischer Raum) und den 'Handlungsraum', ebenso seinen kritischen Standpunkt gegen den Existentialismus. Wir kšnnen hier jedoch nicht darauf eingehen und verweisen auf die vollstŠndige Darstellung (EGENTER 1992a, 1992ff Bd. 2).

Das Entscheidende all dieser Schilderungen liegt, wie bereits gesagt, darin: Raum wird hier nicht mehr als physikalisch leere Abstraktion aufgefasst, sondern všllig neu, zusammen mit konkreten physischen - natŸrlichen und kulturellen - Bedingungen beschrieben. Unter den kulturellen Bedingungen spielt dabei das Architektonische eine wesentliche Rolle. Es stellt vor allem semantisch das OrientierungsgefŸge bereit, in dem - zwischen GegensŠtzen pulsierend - sich der gršsste Teil menschlichen Lebens tŠglich abspielt.

Das wissenschaftlich Schockierendste an BOLLNOWs Methode ist wohl, dass er den Begriff Raum nicht eigentlich definiert. Er beschreibt ihn vielmehr in unzŠhligen AnnŠherungen und gegensŠtzlichen VerschrŠnkungen. Jeder, der Japans Kultur einigermassen kennt, wird zugeben, dass gerade darin, in dieser in polaren GegensŠtzen vorgehenden phŠnomenologischen Beschreibung, bei BOLLNOW etwas eminent Japanisches anklingt.

ANSÄTZE ZU EINER ANTHROPOLOGIE DES RAUMS

BOLLNOW entwirft somit in fŸnf Kapiteln systematisch eine Raum-, Wohn- und Bauanthropologie, die dezidiert vom Primat des Siedelns ausgeht und in welcher die Tektonik elementar oder entwickelt zum semantischen Bestandteil eines wesentlich topologisch und oekologisch aufgefassten humanen rŠumlichen Orientierungssystems wird.

Damit erschliessen sich ganz allgemein neue Forschungsperspektiven auch kulturvergleichender Art. Die konkrete Siedlungsforschung - ethnographisch, historisch und urgeschichtlich - erhŠlt neu eine eminente Bedeutung. Das Erarbeiten von ethno-(prŠ)- historischen Kontinuen des Siedelns wird wichtig. <11> Raum ist substantiell und qualitativ gebunden, muss induktiv erforscht werden, unter BerŸcksichtigung aller seiner spezifischen Bedinungen. Wir mŸssen nun etwa die topographischen Charakteristiken und die sozialen AktivitŠten einer Siedlung genau kennen, wenn wir Ÿber ihren sakralen (oder profanen) Raum etwas aussagen wollen.

SAKRALER RAUM IN JAPAN - BEGRIFFE UND METHODEN

Die metaphysische Einstufung
Wir haben uns kurz ein theoretisches Instrumentarium erarbeitet, das sich auf Japan anwenden lŠsst. Es ergeben sich Fragen wie: Haben sich in Japan, aufgrund spezifischer kulturgeschichtlicher Bedingungen, Raum-VerhŠltnisse erhalten, die BOLLNOWs Hauptthesen bestŠtigen? LŠsst sich in Japan ein RaumverstŠndnis - auch im ontologischen Sinn - aufweisen, das noch eng mit Siedlungsbedingungen zusammenhŠngt? Zuvor jedoch einige religions-theoretische Hinweise.

Der Begriff 'sakraler Raum' ist im westlichen Gebrauch ein Terminus der Religionsgeschichte, resp. der Religionswissenschaft. Dies impliziert westlich gesehen gleich eine doppelte Reduktion. RŠumlich liegt heute das leere, homogene Kontinuum der Physik zugrunde, im sakralen Zusammenhang wird Raum metaphysisch interpretiert. Religion, das heisst vorerst, 'sakraler Raum' ist selbstverstŠndlicher Teil eines religišsen Systems, das sich historisch stŸtzt und alle PhŠnomene aus diesen historischen Quellen ableitet. Das Primat bilden herkšmmlich hšchst abstrakt idealisierte Begriffe, etwa "Geist", "Gott", "Gštter", "Geister", "Ahnen-Seelen" usw., auf der menschlichen Seite psychisch ebenso abstrakte Faktoren wie "Glauben", "Vorstellungen", Ideen usw.. In diesem Kontext werden Kulte zur >Gottes-Verehrung<, Sakralbauten zum >Haus einer (historisch belegten) Gottheit<, usw.. Streng wissenschaftlich gesehen handelt es sich darin jedoch um eine eurozentrisch geprŠgte deduktive Werthierarchie, die im Spannungsfeld von historisch gestŸtzten >Hochreligionen< und (primtivem) >Volksglauben< vom absolut Geistigen ausgeht und entsprechend Materielles und PluralitŠt oft nur degradierend einordnen kann.

In der Japanologie gelten diese methodischen AnsŠtze als selbstverstŠndlich und werden auch japanischerseits meist unkritisch geteilt. Wo es um die Beurteilung von Shint™-Sachverhalten geht, kann sich dieser Zugang jedoch nur halten in rigider EinschrŠnkung auf das Primat der historischen Quellen. Dies bedeutet andersrum zugleich, die všllige VerdrŠngung eines ethnographisch erfassten, immensen Quellenmaterials, das die japanische Volkskunde in den letzten fŸnf-sechs Dezennien im eigenen Land zusammengetragen und publiziert hat. <12> Dieses Archiv ist wohl, bloss schon von den deskriptiven Leistungen her gesehen, eines der wertvollsten der Welt. <13>

Gerade im Bereich des sakralen Brauchtums vermittelt dieses Archiv etwa in Reihenausgaben Ÿber sŠmtliche PrŠfekturen ein ganz anderes Bild vom Shint™ (BUNKACH™ BUNKAZAI HOGOBU 1971ff.; BUNKAZAI HOGO I-INKAI 1955ff.). Andere SammelbŠnde widmen sich bestimmten Kulttypen (Feld- und Waldkulte, Reispflanzfeste) in verschiedenen Regionen (BUNKAZAI HOGO I-INKAI 1966 f.). Es gibt unzŠhlige Monographien zu bestimmten spezifisch lokalen Kulten (KOND™ 1972, HAGIWARA H.1977; ™KAWA 1984, SUGANUMA 1975), oft in reich bebilderten PhotobŠnden (HAGA 1959, ISHIKAWA 1980; YANAGITA 1955, 1977). Wichtig sind die gesamtjapanischen oder teilweisen Topographien zu dšrflichen Shint™kulten (HAGIWARA T. 1965; IRIE, MAEKAWA und YAMADA 1974; MIYAMOTO 1962). Die Vielfalt des kultischen Brauchtums Japans spiegelt sich auch terminologisch in EncyklopŠdien und WšrterbŸchern (MINZOKUGAKU KENKYžSHO 1955; NIHON MINZOKUGAKU KYOKAI 1952, NISHITSUNOI 1958, SAKAMOTO 1957, WAKAMORI et al. 1971, 1976, YANAGITA 1951, 1963). <14>

Dieses immense Archiv beschreibt eine ungeheure FŸlle von kultischen Praktiken, die ganz anders sind als das hšfische Zeremoniell der zentralen Schreinsysteme. In seiner lokal Šusserst differenzierten Vielfalt widerspricht es einer einheitlichen Religionskultur. Diese Quellen haben sich in der westlichen Japanologie kaum adŠquat abgezeichnet. Das Wenige, was etwa in deutscher Sprache verfŸgbar ist, ist interpretativ im erwŠhnten Sinne prŠjudiziert (z.B. EDER 1951, 1956, 1957a, b, 1978 <15>; NAUMANN 1963, TAKEDA 1949 u.a.). Wegweisend ist jedoch KREINERs Arbeit Ÿber die Kultorganisation des japanischen Dorfes (1969). Sie war wohl im Westen die erste auf Feldforschung gestŸtzte, ethnologisch-lokalhistorische Studie, die auch den Forschungsstand der japanischen Volkskunde adŠquat berŸcksichtigte.

Die grosse und die kleine Tradition: Zweischichtenbild des Shint™
Aus diesen kritischen (und positiven) Hinweisen muss man vorerst den japanischen Shint™ dezidiert in zwei Schichten veranschlagen <16>. In diesem Sinne sprechen wir im folgenden konsequent vom Zwei-Schichtenbild des Shint™. Darin unterscheidet sich der >zentrale< oder >historische Shint™< der grossen Ÿberregionalen Schreinsysteme vom >traditionellen< oder >Dorf-Shint™< der agrar-dšrflichen Schicht. Was man herkšmmlich in der Japanologie als Shint™ versteht, wŠre demnach eine begrenzte, historisch begrŸndete Schicht, die, lange im engen Kontakt mit dem kontinental entwickelten Buddhismus (Ry™bu-Shint™), bestimmte Formen prŠgte und diese zentralistisch in die Agrardšrfer diffundierte <17>. Daneben lŠsst sich eine autochthon tradierte Agrarschicht der Dšrfer erkennen, die auf Anhieb ganz andere ZŸge zeigt <18>. Die autochthon-parallelistische Schicht wurde meist nur oberflŠchlich von Formen des zentralisierten Shint™ Ÿberschichtet. Die andersartige Grundsubstanz der lokalen Kulte ist noch eruierbar. <19> Die ethnographische Untersuchung, z. B. der Sachkultur solcher Lokalkulte, weist klar darauf hin, dass in diesen lokalen Ausformungen eine Šltere Schicht des Shint™ Ÿberlebt, die in der agraren Vorgeschichte wurzelt.

Ethnologisch methodologisch gesehen: wichtige Begriffe der Kulturdiskussion, etwa 'Diffusionismus' und 'Parallelismus', oder 'Tradition' und 'Geschichte', werden theoretisch in die Basis, ins ethnographische Feld verlegt, wo sie ausserordentlich fruchtbar werden <20>. So lassen sich im Dorf-Shint™ schon bezŸglich des Gštterkonzeptes zwei verschiedene Schichten freilegen, zum einen das System der historischen Gštternamen, die auf historische ZusammenhŠnge mit zentralen Schreinsystemen verweisen, im tiefer grŸndenden Dorf-Shint™ aber nicht relevant sind. "Gštter ohne Namen" wie HARADA sagt. Die namenlose Lokalgottheit, die ujigami-Gottheit, ist andersrum mit der sozialen Struktur des Dorfes (ujigami, ujiko), den Haus- und Familienlinien (ie, d™zoku) eng verwoben. Sie ist heute noch lokalpolitisch ein Faktor und hatte auch frŸhgeschichtlich in den historischen Sippen eine wichtige Rolle gespielt. Genetisch hŠngt das ujigami-System Ÿberdies mit dem Šhnlich strukturierten Typ der Haus- und Hofgottheit (yashikigami), im weiteren Sinne auch mit dem unter vielen Namen verbreiteten Erdgštter-Kulten (ji no kami, ubusunagami usw.) zusammen. Diese Sicht stŸtzt sich wesentlich auf HARADA (1942, 1960), auch auf seine Betonung der territorialen Aspekte in seinen Ursprungstheorien zum japanischen Dorf. "Die Dorfgemeinde ist losgelšst vom Boden nicht denkbar" (HARADA 1962, zit. nach KREINER 1969:50). Die siedlungsgenetische Methode, die wir nachstehend kurz skizzieren, bezieht sich auch auf HARADA (1961b) insofern, als sie dezidiert ein semantisches Element integriert: das Kontinuum der Gšttersitze und Schreine als Kultmarkierungen eines sakralen Territorialrechts.

Die anthropologische oder siedlungsgenetische Methode
Vorerst drei PrŠzisierungen. Bei der siedlungsgenetisch-anthropologischen Methode liegt die Betonung des Raumbegriffs auf der Bedeutung des lokalen Existenzraums. Raum deckt sich im Sinne BOLLNOWs mit dem spezifisch untersuchten Siedlungsraum. Der Begriff 'sakral' wird aus dem eurozentrischen GefŸge herausgelšst und aus der Sicht der betrachteten Population emisch als >hšchste WertzentrizitŠt< (emische Ontologie) gefasst. Das heisst, in den betrachteten SakralrŠumen drŸcken sich, mit Bezug auf eine bestimmte Siedlung gegenŸber den profanen RŠumen die hšchsten Werte des lokalen kulturellen Lebens aus. Der Ausdruck dieser WertschŠtzung wird nicht primŠr in Vorstellungen gesehen, sondern im Kult. Dieser wird zum grundlegenden InformationstrŠger Ÿber die emische Bedeutung der Anlagen und AktivitŠten. Die mit der Sachkultur eng verbundene Kulttradition gilt als relativ konstanter Faktor, wogegen die verbal fassbare, ideelle Tradition (glauben), stark von der Diffusionsschicht abhŠngt (zentral ausgebildete Priester), somit hšchst wandelbar ist. Diese PrŠzisierungen sind von Bedeutung, denn sie befreien unseren Blick von eurozentrische PrŠgungen.

In Anlehnung an das bisher Gesagte werden in der konkreten Untersuchung vorerst permanente Kultstellen im Rahmen einer >sakralen Topographie< <21> kartographisch erfasst, ebenso der 'profane' Lebensraum einer Siedlung, eines Bezirks oder mehrerer solcher. Die Lage der HŠuser, der Felder, der Wege und andere topographische Charakteristiken werden genau aufgenommen. Diese genauen kartographischen Aufnahmen sind wissenschaftlich von grosser Bedeutung. Sie bilden das relativ konstante GerŸst des lokalen Existenzraums, in welches die beweglichen Daten eingetragen werden. Dies ermšglicht es vorerst intersubjektiv kontrollierbare, somit objektive, wissenschaftliche Erhebungen zu machen.

Die 'sakrale Topographie' bestŠtigt vorerst den territorial reprŠsentativen Charakter der ujigami-Schreine. Gliederungen der Dšrfer in Weiler zeichnen sich in den ujigami-Schreinanlagen ab (s.u.), ebenso die Zusammensetzung einer Landstadt nach historischen Stadtbezirken und frŸher ansŠssigen Dšrfern (™mihachiman). Auch Dominanz wird bestŠtigt. Neben anderen, relativ unabhŠngigen Kultsystemen, etwa demjenigen der Feldgottheit (ta no kami), die im Reiszyklus auf bestimmte Reis-Felder bezogen erscheint und ihre zeitlich verschieden angesetzten eigenen Kulte hat, dominieren die ujigami-Schreine im Dorf ganz allgemein: sie sind zweifellos die gršssten und wichtigsten Anlagen. Vor dem ujigami-Schrein fŸhrt jede Siedlungseinheit in der Regel jŠhrlich einmal ihr wichtigstes Fest als ujigami-Kultfest durch. Auch sind die ujigami-Schreine meist von der dšrflich reprŠsentativen Schicht der ujiko, den alteingesessenen HŠusern resp. ihren ReprŠsentanten unterhalten und kontrolliert. (vgl. HARADA 1942)

Halten wir vorerst fŸr den Dorf-Shint™ fest: es wird eine wichtige und allgemeine sakrale Dimension sichtbar, die eng mit der sozialen und territorialen Struktur der Siedlung und ihrer Geschichte zusammenhŠngt.

EIN BEISPIEL: DAS JÄHRLICHE UJIGAMI-KULTFEST DER D...RFER UM SENS™KU

Permanente sakrale Topographie
SŸdšstlich der alten Landstadt ™mihachiman, in der fruchtbaren Reisebene am šstlichen Ufer des Biwasees, liegen drei benachbarten Dšrfer. Mabuchi das eine, an der Nationalstrasse 8 gelegen, westlich davon Sens™ku, und weiter westlich Iwakura, am Fusse eines der fŸr die Shiga-PrŠfektur typischen, inmitten der Reisfelder inselartig aufragenden, bewaldeten Berges (Abb. 1). Seit der Beilegung eines Streites im 15. Jhdt. sind diese drei Dšrfer (frŸher unter Einschluss von Ueda) zu einem politischen und kultischen Verband zusammengeschlossen. Dieser Bund spiegelt sich heute noch, nicht nur im VerhŠltnis der Kultanlagen untereinander, sondern auch in der Ordnung des Kultkomplexes (Abb. 2).

Jedes der drei Dšrfer besitzt seinen eigenen Dorfschrein, jinja, wobei dies sowohl die Gesamtanlage wie den einzelnen Schreinbau bezeichnet (Abb. 3). Die Anlagen und die Schreine reprŠsentieren im lokalen VerstŠndnis die Dorfgottheit (ujigami). Die Anlagen sind, wie allgemein in Japan, eingangs mit einem Sakraltor (torii) gekennzeichnet, der Zugang fŸhrt auf einen Vorplatz, der von einer offenen 'Tanzhalle' (haiden) besetzt ist und, am Ende des Vorplatzes mit Schreinbauten (honden), die bestimmten historischen Gottheiten geweiht sind (z.B. Hachiman Kriegsgott in Mabuchi, oder Inari Reisgottheit in Iwakura). Dahinter und flankierend stehen bewaldete Zonen die als Gštterwald gelten (kami no mori). Diese Schreinanlagen, lokal meist personifiziert 'o-miya-san' genannt, sind der wichtigste Kult- und Sakralraum der einzelnen Dšrfer. Auf einem Plateau in einer Lichtung im Bergwald von Iwakura findet sich ein weiterer Schrein (Umamiokajinja), der als Zentralschrein (gosha) der drei Dšrfer gilt. Er ist Ÿber eine in der Fallgerade angelegte Treppe erreichbar. Neben diesen Kultanlagen treffen wir noch eine weitere. Im Garten des GrŸnderhauses (Familie Bamba) von Sens™ku markiert ein bei der GrŸndung des Hauses gesetzter Stein einen Ort, der zur Festzeit mit besonderen Mitteln zur temporŠren Kultstelle aufgestaltet wird.

Um diese Anlagen spielt sich zu einer bestimmten Zeit im Jahr wŠhrend zwei-drei Tagen das wichtigste Kultfest (hi-matsuri) der drei Dšrfer ab. Die Ordnungen des Festes sind in strenger Tradition geregelt und lassen von ihren inhaltlichen Elementen auf verschiedene Entwicklungsstufen schliessen. Deutlich entsteht der Eindruck einer akkumulierten Struktur. Das Fest sei im folgenden kurz beschrieben.

Temporäre sakrale Topographie: das jŠhrliche ujigami-Kultfest der drei Dörfer
Der zusammenhŠngende Kultfest-Komplex, der jŠhrlich in den ersten Maitagen abgehalten wird, ordnet sich rŠumlich und zeitlich nach der Bedeutung der Kultanlagen. Mit Auftakt und Abschluss setzt ein Ÿbergeordnetes Kultfest (gosha-matsuri) den Rahmen fŸr einen Kern, der wesentlich aus drei parallelen Dorffesten (uchimatsuri) besteht.

Das Ÿbergeordnete Rahmenfest leitet ein mit einem 'Vorabend aller Dšrfer' (g™d™ no yomiya). Man kommt bei Einnachten mit grossen Trommeln aus den drei Orten zum Zentralschrein, wo ein zuvor gebautes Kultzeichen als 'ortsfeste Kultfackel' (suetaimatsu) (Abb. 4) und eine mehrortige HochsŠule als 'Schirmfackel' (kasataimatsu) abgebrannt werden (Abb. 5). Dies geschieht jedes Jahr im Turnus (Dorf, A, B, oder C). Die temporŠre Errichtung reprŠsentiert die Dšrfer im Verbund.

Am nŠchsten Morgen beginnt das zugeordnete Tagesfest, das 'Hauptfest aller Dšrfer' (g™d™ no honbi) in enger Beziehung zum GrŸnderhaus von Sens™ku (oyamoto): In dessen Garten wird in feierlicher Zeremonie ein Altar errichtet (o-hake). Hiezu wird zuerst ein im Bergwald des Zentralschreins gebrochener (sakaki-) Zweig zum Dorfschrein gebracht, dort zum Sakralobjekt (tamagushi) erhoben und bei einer Prozession zum Garten des GrŸnderhauses gebracht. Dort wird er auf einen mit Grasziegeln (iwagusari) belegten, einst vom HausgrŸnder gesetzten Stein, senkrecht aufgestellt. Danach wird rings um den Stein die mit vom Bergwald mitgebrachter roter Erde (akatsuchi) bestreute Kultzone im Geviert durch ein Kultseil (shimenawa) vom Ÿbrigen Garten abgetrennt.

Auf diese stille, dem GrŸnderhaus in Sens™ku zugeordnete Eršffnungsfeier im Morgengrauen folgt unmittelbar eine idylllische Prozession der drei Dorfkultgruppen Ÿber alte Tretpfade von den Dšrfern zum Zentralschrein (gosha-matsuri). Bei dieser vom Klang rythmisch geschlagener Glocken begleiteten Prozession (u no toki watari) durch die von frŸhmorgendlichem Dunst belegten Reisfelder werden bewegliche Kultobjekte (brennende Leuchtfackeln, hiboko, "Sonnenspeer") (Abb. 6) und insignienartig gekennzeichnete Bambusstšcke (heitsue) mitgetragen. Nach einer traditionell geordneten BegrŸssungszeremonie (aisatsu) am Fusse des Zentralschreins begibt man sich zu diesem hoch und fŸhrt dort verschiedene Zeremonien durch <22>. Diejenige ist am markantesten, bei der sich die Kultgruppen plštzlich unter lautem Geschrei um die 'Sonnenspeere' scharen, diese im Kreise drehen und sie durch wildes Drauflos-schlagen mit den Bambusstšcken zerstšren.

Zum Rahmenfest gehšren auch eine anschliessende Feier im GrŸnderhaus (niwa-matsuri) und ein festliches Treffen der Kultgruppen in Sens™ku. Letzteres findet auf dem dortigen temporŠren Festplatz (o-tabisho) in der NŠhe des GrŸnderhauses (oyamoto) statt. Man feiert unter Anwesenheit der in beweglichen Schreinen (o-mikoshi, 'GšttersŠnften') mitgebrachten Dorfgottheiten in lagerartig errichteten Zelten. In Gruppen zusammengefasst, spricht man, auf Matten sitzend, munter geheiligtem Reiswein (o-miki) und festlichen Speisen zu. Dieser Festteil trŠgt stark ZŸge mittelalterlicher Sozial- und Kultordnung (miyaza), und spielt, mit seinem feudalistischen GeprŠge, hier nur eine sekundŠre Rolle.

Den Kern des Festkomplexes bilden dann die Dorffeste (uchimatsuri) in den Bezirken der Dorfschreine. Sie entsprechen dem Grundtyp wie er in der ganzen Gegend verbreitet ist (ein Schrein, eine Kultgruppe, eine temporŠre Kultmarke vor dem Schrein. Siehe Abb. 4 Plan und Abb. 17).

Den Abschluss dieser Dorffeste bildet wiederum eine Zeremonie, die zum Rahmenfest gehšrt. Der Altar (o-hake) im Garten des GrŸnderhauses (oyamoto) wird aufgelšst, der heilige (sakaki-) Zweig wird in einer Prozession zum Dorfschrein (Tsubakijinja) zurŸckgebracht und dort hinter dem Schreinbau dem Zerfall Ÿberlassen.

Auf der Abb. 2 ist das Kultfest rŠumlich schematisiert dargestellt. Es handelt sich um drei parallele dšrfliche Feste, die von einem analog strukturierten Kultfest vor dem Zentralschrein Ÿberschichtet sind. Das Fest vor dem Zentralschrein bildet jŠhrlich das BŸndnis der Dšrfer ab. Parallel zum Ganzen und damit verwoben, erscheint das Fest des GrŸnderhauses, das sich offensichtlich im Zusammenhang mit dem feudal-mittelalterlichen Festteil angelagert hat.

Soweit der Gesamtrahmen des Kultkomplexes. Dieses Kultgeschehen ist frappant verschieden von dem, was man heute unter Shint™kulten versteht. Es zeigt - wie auf einem Schachbrett - eine sehr prŠgnante Ordnungsstruktur, ein System, das territoriale und soziale Elemente Ÿber bestimmte Symbole und Zeichen nach traditionell streng geregeltem Muster in Beziehung setzt.

GÖTTERSITZE IN 100 DÖRFERN: DIE ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG

Wir haben das Kultfest vorerst mšglichst sachlich - vergleichbar etwa einem Dokumentarfilm <23> - ohne herangetragene Interpretationen von seinen rŠumlichen Bedingungen her beschrieben. Das in unserer Sicht Wichtigste daran sind die sakralen Zeichen und Symbole, die man an bestimmten Stellen errichtet und wieder zerstšrt.

Das Beispiel ist der Feldforschung des Autors in 100 Dšrfern Zentraljapans entnommen (EGENTER 1980, 1994d). Die Arbeit galt Ÿber vier Jahre (1972-76) der systematischen Untersuchung eines heute noch in ganz Japan verbreiteten, meist dem ujigami-System zugeordneten Kulttyps, bei dem aus fasrigen Pflanzenmaterialien (Schilf, Stroh, Bambus, Zweige usw.) errichtete >fibro-konstruktive< Gebilde sog. 'Gšttersitze' (yorishiro) <24> eine zentrale Rolle spielen (Abb. 7, 8). <25>

Allgemein werden solche Gšttersitze meist in enger Beziehung zu permanenten Kultbauten errichtet. Sie gelten nach Fertigstellung als heilig, sind temporŠrer Sitz einer lokalen Gottheit, bilden in unserem Sinne hšchste lokale WertzentrizitŠt. Andere Kultelemente verschiedener PrŠgung sind in der Folge auf diese Sakralmarken bezogen. Zum Schluss oft heterogen akkumulierter FestablŠufe werden die Gštterzeichen manuell zerstšrt, deplaziert, oder explizit weggeworfen, dem Zerfall Ÿberlassen. Oft werden sie im Rahmen spektakulŠrer Feuerfeste (hi-matsuri) in Brand gesteckt und auf diese Weise zerstšrt.

In der japanischen Volkskunde sind diese temporŠren Gšttersitze weithin bekannt, zum Beispiel als Teil (sagich™, dondonbi) von Festen des kleinen Neujahrs (kosh™gatsu). Sie werden jedoch meist als sekundŠre Erscheinungen eingestuft, etwa im Zusammenhang mit jahreszeitlichem Brauchtum beschrieben oder im Rahmen von Feuerfesten erwŠhnt. In der volkskundlichen Diskussion wird auch meist die offizielle Shint™-theologische ErklŠrung Ÿbernommen, wonach solche Gebilde als einladende Zeichen fŸr den lokalen gšttlichen Geist (shinrei) errichtet wŸrden. Vom Himmel herabgestiegen, ist er wŠhrend des Festes (matsuri, reisai) oder Bankettes (gochis™) entsprechend prŠsent und prŠsidiert das soziale Geschehen. An dominant zentralisierten Schreinen wird dies denn auch als 'Herniederbitten der Gottheit' (kami-oroshi) entsprechend zeremoniell durchgefŸhrt. <26>

Gšttliches temporŠr in von Menschenhand gemachter Gestalt! In der westlichen Vorstellung eher ein herausforderndes Thema! In der Shint™Theologie wird jedoch gšttlicher Geist nicht absolut gefasst. <27> Entsprechend gibt es relativ wenige Arbeiten, die sich ausdrŸcklich mit dem PhŠnomen temporŠrer Gšttersitze auseinandersetzen. YANAGITA (1943) diskutiert im Rahmen 'japanischer Kultfeste' unter dem Titel 'Markierungen von Kultstellen' einige Typen von Gšttersitzen, bleibt aber stark den Šlteren westlichen Theorien zum Baumkultus verhaftet, was seine Ordnung des Materials weitgehend bestimmt. HARADA (1941) gibt - bezŸglich Form und religišser Bedeutung - eine Typologie zu den unter dem Begriff 'o-hake' brauchtŸmlich fassbaren Kultmarken, die er zu jener Zeit vornehmlich noch als Opfer auffasst. Wichtig in unserem Zusammenhang ist die sehr viel differenziertere und ethnohistorisch angelegte spŠtere Arbeit HARADAs (1961b) 'Himorogi kara o-kariya made'. Sie geht aus von der frŸhgeschichtlich belegten, als 'himorogi' bekannten Kultmarkierung, weist vorerst auf verwandte, rezente Traditionen im Isekult (shin no mi-hashira, sakaki-Zweig) hin, vermerkt vergleichbare, jŠhrlich mit sakaki-Zweigen erneuerte Markierungen in einem benachbarten Dorfschrein (Matsushita, s. u., Abb. 26, 27) und erarbeitet, aufgrund von historischen und volkskundlichen Quellen schliesslich eine Gruppe von 'temporŠren Dach-artigen Formen' (o-kariya), die teilweise perennierend erneuert, zum Teil nur temporŠr errichtet werden, entweder bestimmten HŠusern (t™ban) zugeordnet, oder in Verbindung mit entwickelten ujigami-Schreinen erscheinen. HARADA arbeitet dabei - im Sinne von kulturellem Wandel - die komplexen Unterschiede zwischen diesen Typen heraus. Das Wichtigste: die dem Hause zugeordneten perennierend erneuerten Gšttersitze gelten nach Fertigstellung autonom als 'gšttlicher Geist' (shinrei), wogegen die Verlagerung der Kulte auf die entwickelten Schreine ein Entwertung des autonomen Kultmals zur Folge hat. Die entsprechende Gottheit wird zum Teilgeist (bunrei) der im Schrein lokalisierten Gottheit und kehrt am Kultende in einer Prozession (o-watari) zum entwickelten Schrein zurŸck. Das heisst, die zyklisch perennierend erneuerte vollwertige Form ist als die primŠre Struktur anzusehen. Aehnlich lŠsst sich die ausserordentlich wichtige, zyklische PerennitŠt der heute meist nur noch temporŠr vorkommenden Gšttersitze in der Gesamtschau aller Gšttersitztypen, etwa mithilfe der Ÿber ganz Japan verbreiteten, meist noch perennierend gebrauchten Strohschreine (waramiya) der Haus und Hof-Gottheit (yashiki-gami, NAOE Hiroji 1963, 1966) rekonstruieren (EGENTER 1980 :60, Abb. 66).

In der vom Autor untersuchten Omihachiman-Gegend sind Feste mit Gšttersitzen von japanischen Autoren beschrieben worden: Feste in Ueda (KITAGAWA 1966) Omihachiman (TSUKITAKE 1966), und Sens™ku (HAGIWARA T. 1965). HAGIWARA beschreibt den Kultfackelteil des hier beschriebenen Festes nur am Rande. Ihn interessierten vor allem mittelalterlich-feudale Elemente, die sich an diesem Kultfest ebenfalls erhalten haben. Den Kultfackeln mass er keine besondere Bedeutung zu. KITAGAWA und TSUKITAKE geben genaue Beschreibungen der Feste. Die Interpretation folgt jedoch den oben beschriebenen Shint™-theologischen Vorstellungen. Die im Kult gebauten Gebilde werden als Feuerfackeln (taimatsu) im Rahmen von Feuerfesten (hi-matsuri) aufgefasst, sie werden geheiligt, der Geist der Lokalgottheit prŠsidiert Festlichkeiten und Bankette. Am Schluss kehrt der Geist im Element Feuer wieder zum Himmel zurŸck.

In den ethnographischen Feldforschungen des Autors wurde diese Thesen grundsŠtzlich in Frage gestellt. In hundert untersuchten Dšrfern wurde der Nachweis erbracht, dass es sich in den Gšttersitzen der Omihachimangegend nicht bloss um Fackeln oder Feuerstšsse handelt, sondern um Bauten. Architekturtheoretisch geht es um einen sehr urtŸmlichen Typus von Bauformen mit territorial-semantischen und symbolischen Funktionen <28>. Das heisst, das Entscheidende dieser Kulte sind die Gšttersitze selber, ihre zyklische Erneuerung, ihre Struktur, ihre Formen, ihr Zeichencharakter, ihre Symbolik, ihre Beziehungen zur sozialen Struktur des Dorfes! Gšttersitze als Vorform der ujigami-Schreine! <29> Aus den umfangreichen Rekonstruktionen wurde die These abgeleitet, dass es sich in diesen Kulten ursprŸnglich wesentlich auch um ein vorgeschichtlich agrardšrfliches Territorialrecht handelte, bei dem die verŠnglichen GrŸndungsurkunden zyklisch erneuert wurden. Zwei Gesichtspunkte waren fŸr diese Beurteilung massgebend: die detaillierte morphologische Untersuchung der Zeichen und die Einsicht in ihre sozio-territorial reprŠsenstative Funktion.

Morphologische Untersuchung der Gšttersitze
Die detaillierte morphologische Untersuchung nach verschiedenen Kriterien zeigte, dass es sich klar um gebaute Formen handelt (Abb. 9, 10) und dass 'Gšttersitze' Gebilde sind, die ein kulturgeschichtlich sehr altes Kulturgut mit sich tragen (autonome Formwerdung, Geometrie, elementare architektonische Prinzipien; s. EGENTER 1980:35-69). Weiter konnten in der Ana-lyse zu verschiedenen kunstwissenschaftlichen Grundbegriffen (Aesthetik, Proportion, Symbolik) neue und ungewšhnliche Ein-sichten gewonnen werden. Die Formen sind nicht 'einfach' wie ihre Herstellungsweise suggeriert, im Gegenteil, sie sind sehr komplex. Das wichtigste liegt wohl in der Aufdeckung einer immanenten "Struktur-Symbolik": das formale Prinzip der >Koinzidenz der GegensŠtze< <30> dominiert in diesen Formen (Abb. 11). Es handelt sich um Modelle polarer Harmonie.

Die philosophische Bedeutung der Gšttersitze
Entsprechend wird die wissenschaftliche Beschreibung der Formen ausserordentlich schwierig. Materiell und in ihrem Umriss sind sie Einheit, doch, betrachtet man sie mehr von ihren Eigenschaften, so erweisen sie sich als gegensŠtzlich gegliedert (Abb. 12). Nimmt man das Haupt-Seil, das heilige 'shimenawa', als Element mit hinein, so wŸrde man von einer 'Dreiheit' <31> sprechen Abb. 13). Das heilige Seil hat hier Ÿberdies eine kausale Dimension. Seine bauliche Funktion ist lesbar. Es hŠlt konkret die Form zusammen, ist Bedingung des Ganzen und der Teile, 'conditio sine qua non'. Zwischenfrage: hat das japanische 'shimenawa' sich aus dieser besonderen Position zum allgemeinen Sakralzeichen entwickelt? Jedenfalls, die Form entzieht sich der logischen Beschreibung (bewegt oder unbewegt?), ist 'irrational'.

Bei näherem Hinsehen wird jedoch gerade diese irrationale Form zum Modell eines kognitiven Systems. In kategorial polaren Analogien lassen sich Šusserlich ganz verschiedene Formen - Ÿber die Harmoniebedingung - identisch sehen (Abb. 14). Die lokale Unterscheidung (jede Siedlung hat ihre eigene Form) erscheint verwoben mit dem strukturellen System (alle Formen sind eins, da harmonisch strukturiert). IdentitŠt trotz Šusserlicher Verschiedenheit. Ein differenzierendes und ein verallgemeinerndes Prinzip wirken zusammen. Man beachte, dass das Individualisierende sich auf den pragmatischen Aspekt, auf die territoriale Funktion bezieht. Die Struktursymbolik dagegen stŸtzt das spirituelle und irrationale Element, die Verallgemeinerung (oder Idealisierung!). Im weiteren Sinne lŠsst sich darin auch ein kognitives Modell erkennen, mit dem der Mensch kulturgeschichtlich natŸrliche Dinge (Baum) entdecken konnte (Abb. 15). <32>

Die symbolische Bedeutung der Göttersitze
Auch symbolisch sind die untersuchten Gšttersitze von einem ungeheuren Reichtum (Abb. 16). Zwei Schichten von Symbolik liessen sich unterscheiden, eine autochthone 'Struktursymbolik' die sich aus der fibro-konstruktiven Tradition herleiten lŠsst und eine von aussen akkumulierte Symbolik, die sich meist in sinojapanischen AusdrŸcken (nichirin, tenkai, iny™) als chinesisch beeinflusste, somit sekundŠr angelagerte Vorstellung zu erkennen gibt. Damit ergeben sich auch in dieser Hinsicht wertvolle Modelle fŸr das VerstŠndnis symbolischen Denkens.

Auch religionstheoretisch deuten die Symbole so einen ernst zu nehmenden kognitiven Komplex an, der diachronisch im humanen Existenzraum beheimatet ist. Die Struktur des Metaphysischen wŠre so ganz neu denkbar. <33> Sie wŠre, dem chinesischen Yin-Yang-Symbol vergleichbar, als formalrŠumliches Ordnungsprinzip, diachronisch in die existentielle Vergangenheit des Siedelns zu verlegen. Hermann K...STER hat in seinem Buch Ÿber den chinesischen Universismus (1958) Šhnliches fŸr die AnfŠnge Chinas vorgeschlagen.

Die sozio-territoriale Funktion der Gšttersitze
Nicht zuletzt zeigt die ethnographische Untersuchung auch klar die semantischen Funktionen der Gšttersitze im sozialen und territorialen Sinne. Verschiedene Dšrfer zeigen verschiedene Formen. In vielen FŠllen sind die Grundtypen verschieden, in anderen FŠllen werden Šhnliche Grundformen in wichtigen oder nebensŠchlichen Details unterschiedlich behandelt. Jedes Zeichen reprŠsentiert eine bestimmte territoriale Einheit, eine Siedlung und das zugehšrige Land, das diese besitzt (Abb. 17). Jedes Zeichen reprŠsentiert auch eine bestimmte Gruppe der dšrflichen Kultorganisation, z.B. JungmŠnner- (wakarenshž) oder Šltere MŠnner-BŸnde (zenin). (Abb. 18). Dies folgt im allgemeinen dem Prinzip: die Gruppe, die ein Zeichen baut besitzt es. Andersrum reprŠsentiert das Zeichen dann das Territorium der betreffenden Gruppe.

Wichtige Siedlungs-"Geschichten" kšnnen mit diesen Zeichen "geschrieben" werden. (Abb. 19) Die Riten lassen sich lesen: sie sprechen von oft sehr komplexen Bundes-Geschichten (Warnung) im VerhŠltnis verschiedener lokal benachbarter Gemeinden.

Diachronisch ergibt sich eine komplexe Struktur, die auf die SiedlungsgrŸndung verweist. In ihr sind soziale, rituelle und rŠumliche Strukturen der Siedlung zu einem siedlungsgenetischen Funktionskomplex verwoben (Abb. 20).

Siedlungsgenetische Interpretation der Gšttersitze
Wir haben ein toposemantisches System herausgelšst, das eng verwandt ist mit den ujigami-Schreinen und der von ihnen erzeugten rŠumlichen, sozialen und kultischen Ordnung. Also auch hier wieder zwei Schichten? Offensichtlich waren die fibrokonstruktiven Gšttersitze die Vorfahren der heutigen Holzschreine. Sie mŸssen in Japan allgemein in Gebrauch gewesen sein, bevor es den von China eingefŸhrten, entwickelten Holzbau gab, das heisst auch, bevor die Felder staatlich vermessen waren, bevor es eine staatliche Territorialverfassung gab.

Die Abb. 21 zeigt schematisch die siedlungsgenetische Interpretation der untersuchten Gšttersitze. Der erste Siedler kommt in die noch unbewohnte Schilfgefilde-Gegend, setzt sein Zeichen. Im traditionellen Kodex bedeutet dies die BegrŸndung seiner kŸnftigen Siedlung. Die Grenzen des Dorfterritoriums sind in nuce im Zeichen enthalten. Oben, jenseits, hinter dem Zeichen ein nicht-definierter Teil, wild, natŸrlich, bewaldet, fŸr Menschen unzugŠnglich, tabuisiert, von Gšttern und Geistern bewohnt gedacht <34> und unten ein flacher, umrissener, begehbarer Teil, ProduktionsflŠche fŸr Reisfelder und Grund zum Wohnen. Der Bauer baut sein Haus, erhŠlt Kinder, seine Abkšmmlinge, alle 'Sippenkinder' (ujiko). SpŠtere ZuzŸger bleiben ohne Beziehung zur GrŸnderlinie und zum Kult. Der GrŸnder als primŠrer Landbesitzer (und seine Hauslinie) haben Macht Ÿber die Abkšmmlinge und spŠter Ÿber PŠchter. Soziale Hierarchie erzeugt sich autonom. Die rituelle Erneuerung des vergŠnglichen Zeichens im Zentrum hŠlt dieses System intakt durch die Zeit, dokumentiert auch die soziale Hierarchie, sei es die Vorherrschaft des GrŸnderhauses (kusawake), oder der Abkšmmlinge als Gruppe (ujiko) gegenŸber spŠteren ZuzŸgern ohne Bezug zu ansŠssigen Haus- und Blutslinien. Die oberste Linie zeigt die VerdrŠngung des Gšttersitzes durch einen entwickelteren "Gšttersitz" den Holzschrein (Abb. 21).

Die Ordnung des Dorfes
Die geographisch-rŠumliche Ordnung des Dorfes zeigt sich klar von diesem System bestimmt (Abb. 22). Der kategorial polare Geltungsanspruch von wildem Bergwald und begrenztem Produktionsland verrŠt deutlich die Orientierung an der Struktursymbolik der Zeichen. Der humane Lebensraum ist derart harmonisch eingebettet in die wilde und unbekannte Natursituation. Das Demarkationszeichen liegt trennend und zugleich einend auf der Grenzlinie zwischen Berg und Tal, Wald und Land <35>

Auch der ganze Siedlungsplan erscheint durch die Markierungen initial bestimmt im Sinne eines Axensystems, das wir >Weg-Ort<-Schema <36> nennen (Abb. 23). Es interpretiert das Grundschema (Abb. 22) von menschlichen Bedingungen her. Die Markierung gibt den Fixpunkt, bildet die Grenze der menschlichen DomŠne zum un-akkulturierten Jenseits des Bergwaldes. Der Weg auf dieses Mal bestimmt das ganze Dorf. SekundŠr werden die humanen DomŠnen gegliedert mit paarigen Markierungen (Tormarken), bleiben aber immer auf die wichtigste, primŠre Kultmarke bezogen.

Yahazu-no-uji-Matachi, der SiedlungsgrŸnder im Hitachi-Fudoki
Dass die initiale Markierung von Kultstellen ausdrŸcklich die BegrŸndung von territorialrechtlichen AnsprŸchen bedeuten konnte, erzŠhlt uns recht deutlich ein im Hitachi-Fudoki (SAKAI 1940) angefŸhrter Bericht, wonach sich ein Siedler Namens Matachi aus dem Yahazu-Stamm (uji) - vermutlich im ersten Drittel des 6. Jhdts. - in einem Tal der damaligen Provinz Hitachi - in der heutigen PrŠfektur Ibaraki - niederliess.

Die altjapanischen Fudoki sind ein einzigartiges noch kaum genŸgend gewertetes Schriftgut der japanischen FrŸhgeschichte. Es sind - modern gesagt - antike "volkskundliche" Erhebungen, die die Zentralregierung zu Beginn des 8. Jhdts. von den damaligen Provinzverwaltungen anforderte. Es ging um topographische Eigenheiten, BrauchtŸmliches, besondere Produkte, auch Ortsnamen, ja gar "Interviews" mit noch lebenden Alten wurden verlangt. Wir kšnnen entsprechend annehmen, dass der im folgenden in unserem Kontext kommentierte Matachi-Bericht reprŠsentativen Charakter hat. <37>

(1) Elementar-rŠumliches Element: Akkulturation ('Purifikation')

  • Matachi beschliesst, in einem kleinen Tal fŸr den Reisanbau neues Land zu erschliessen, doch 'gehšrnte Schlangengštter' (yato no kami) behindern die Kultivierung, in bewaffneten Attac-ken lassen sie sich in Richtung Bergwald vertreiben.
  • Herkšmmlich wurde Aehnliches als 'Geisteraustreiben', als 'Purifikation' beschrieben und dem Irrationalen zugeordnet. Aus der anthropologischen Raumsicht zeigt sich dagegen ein sinnvolles Bild. Raum wird - durchaus im Sinne BOLLNOWs - umqualifiziert. Eine nicht akkulturierte DomŠne wird schrittweise zur akkulturierten erklŠrt und entsprechend in Beschlag genommen. Aus dieser Sicht sind die 'Geister' als Codes fŸr das noch unakkulturierte Land zu verstehen, offensichtlich abgeleitet von konkreten Symbolen, wie sie in der japanischen Volkskunde heute noch, etwa im Rahmen von Grenzgštterkulten (sai no kami), bekannt sind.

(2) Semantisch-symbolisches Element: Grenzmarkierung/ Gliederung in zwei DomŠnen

  • Anschliessend errichtet Matachi einen "Pfahl" (kui), zieht einen "Grenz-Graben" (sakai no hori) zwischen flacher Talsohle und ansteigendem Bergwald, bestimmt so die Schwelle (yamaguchi) zwischen Berg und Tal und spricht: "Ihr Gštter sollt euer Land oberhalb dieser Grenze haben, der Mensch legt seine Reisfelder darunter an."
  • Die flache Talsohle wird zur akkulturierten DomŠne erklŠrt, der Bergwald wird DomŠne der 'Gštter' und 'Geister', dh. zur un-akkulturiert belassenen, aber auf die akkulturierte Talsohle polarharmonisch bezogenen DomŠne. Entscheidend ist die philosophische oder ontologische Dimension: Raum wird nicht einfach als endlos VerfŸgbares genommen, man bettet sich vielmehr mit 'transzendenten' AbhŠngigkeits-BezŸgen ein in das gršssere, un-akkulturierte Medium, oder, was wir heute Natur nennen wŸrden.

(3) Sozial-hierarchisches Element: Initalisierung des Kults Ÿber Generationen

  • Und Matachi spricht weiter: "Von jetzt an werde ich euch Gštter als Priester (hafuri) respektvoll verehren, Generation fŸr Generation, fŸr immer. Ich beschwšre euch, bringt nicht Fluch auf uns, hegt keinen Zorn gegen uns." Indem er so spricht, richtet er sich zum Schrein (yashiro), begeht die erste Feier (matsuri).
  • Da wir die 'fibrokonstruktiven' Gšttersitze in enger Verwandtschaft zu den spŠteren Holzschreinen behandelt haben, spielt es keine wesentliche Rolle, was unter 'yashiro' <38> zu verstehen ist. Die wohl zeitlich kaum gross geraffte ErzŠhlung und die frŸhgeschichtliche Zeit in der sie spielt, deuten eher daraufhin, dass das auf der Schwelle zwischen Bergwald und Tal errichtete Kultmal von der Art der beschriebenen Gšttersitze ist.
  • Dann wŠre auch unter der ersten Feier (matsuri) ganz konkret die Installation dieses von nun an perennierend zyklisch zu erneuernden Kultmals zu verstehen sein.
  • Matachi als GrŸnder erklŠrt sich mit Bezug zum initiierten Kult zum Priester, wird, Ÿber das gesetzte Zeichen (als pars pro toto) auch Besitzer des kŸnftigen Dorfes. Die kŸnftige soziale Hierarchie ist potentiell angelegt.

(4) Urbarmachung und Besiedlung

  • Danach nimmt Matachi im Tal etwa elf Hektaren fŸr Reisfelder in Besitz, rodet die FlŠche und teilt das Land in bebaubare Felder ein. Zum Schluss: "die Abkšmmlinge des Matachi waren Generation fŸr Generation erfolgreich. Sie hielten den Kult aufrecht ohne Unterbruch bis heute."
  • Ueber die Lage der HŠuser ist nichts gesagt, aber der Kommentar lŠsst auf einen kleinen Weiler mit einer eng verwandten Siedlergruppe schliessen, Sippenkinder (ujiko) des Matachi, im weiteren Kreis, Angehšrige der Yahazu- Sippe.
  • Matachi hŠtte derart wohl auch den Kult der Sippengottheit (ujigami) seiner eigenen Sippe begrŸndet. Generationen! Wie auch immer sozial organisiert, das Motiv ist klar: KontinuitŠt menschlicher Existenz in einer bestimmten Siedlung, rŠumlich und zeitlich. <39>

Der historische Bericht belegt uns somit recht klar den siedlungsgenetischen Funktionskomplex, um den es uns geht (Abb. 20). Es handelt sich letztlich um ein elementares Beispiel zur vorgeschichtlich-dšrflichen Territorialverfassung Japans. Der Beleg zeigt auch, wie eng dieses staatlich noch nicht reglementierte Territorialrecht mit dem zusammenhing, was wir als autochthone Schicht des Dorf-Shint™ bezeichneten.

DIE SICHERUNG DES FR†HEN SIEDLUNGSRAUMS UND DIE JAPANISCHE DORFKULTUR

Das bisher Rekonstruierte vermittelt uns recht klare Vorstellungen darŸber, wie man in vorgeschichtlicher Zeit im Rahmen einer altŸberlieferten Tradition den agrar-dšrflichen Siedlungsraum sicherte. Erstaunlich friedlich! Es geschah Ÿber ein recht stereotypes Weg-Ort-Schema, das sich primŠr Ÿber ein elementares fibrokonstruktives Zeichensystem formiert und im Akt der Markierung in nuce die ganze Siedlung definiert. <40> Das gilt nicht nur rŠumlich, sondern auch kultisch und sozial.

Indem das gesetzte Mal das in Beschlag genommene Siedlungs- und Anbauterritorium reprŠsentiert, erzeugt die GrŸndung zwangslŠufig diachronisch soziale Hierarchie <41>. Mit den Abkšmmlingen des GrŸnders bereits, spŠter mit ZuzŸgern, bahnt sich ein Verteilprozess an, der vom initialen Gesamtanspruch des GrŸnders, resp. des GrŸnderhauses ausgeht: der entsprechende ReprŠsentant kann als Priester (kami-nushi, Besitzer der Gottheit), und Sippen- oder Dorfchef (uji no kami) Ÿber den Existenzraum verfŸgen, dh. Landzuteilungen bestimmen. Von diesem Aspekt her versteht sich einmal die funktionelle WertschŠtzung der Markierung. Es gibt handfeste Interessen, sie rituell zu erhalten. Haus- (ie, honke, bunke) und Stammlinien (d™zoku) entwickeln sich in diesem Interesse, kšnnen so auch reiche Abwandlungen zeigen. PrimŠr ist jedoch, in der zyklischen Erneuerung der Markierung, die Archivierung der territorialpolitischen Vorrechte des GrŸnderhauses und seiner Abkšmmlinge.

Die Kultmale bildeten schliesslich zeitlich einen uralten Festkalender, bei dem immer je das Einst der GrŸndung ganz konkret ins Jetzt einbrach. Wir sahen die Zeichen im Kult auch menschliches Verhalten prŠgen. Eine traditionelle 'Moral', - in hšchsten Wertvorstellungen - wird sichtbar. Die morphologische Untersuchung Ÿberdies hat deutlich gezeigt, dass die herkšmmlich recht unbedeutend eingestufte elementare Bau-Technologie reiches Kulturgut aus tiefer Zeit zu speichern vermochte. Die 'axis mundi' ist sichtbar! Wir kšnnen ihren immanenten Wert verstehen. Eine spezfische 'Weltsicht', eine lokale Ontologie, existentiell sinnvoll, zeichnet sich ab. Steht vielleicht das polare Harmoniemodell in ihrem Kern an einem siedlungsgenetischen Anfang des Metaphysischen? Erkenntnistheorie, Aesthetik, Symbolik. Sind diese Symbole ein mšglicherweise einflussreicher Anfang der japanischen Kultur?

Traditionelle Dorfkultur und historische Kultur
Dšrfliche Raumordnung, soziale Hierachie, Territorialpolitik, rŠumliche 'Schrift' und kultisches 'Archiv' der lokalen Territorialgeschichte, eine uralt Ÿberlieferte Kunst, die nicht bloss OriginalitŠt, sondern - existentiell - 'origo', Ursprung, bezeugt, jedes Jahr buchstŠblich 'kultiviert' von den Alteingesessenen, die hšchsten Werte reprŠsentierend, in freudig-ekstatischen Festen gefeiert, im Rahmen eines harmonischen Wertsystems, einer polaren Ontologie, die Norm und Anomie, Kultur und Unkultur zu harmonischen Einheiten fasst. <42>

Das heisst, im sakralen Raum des Dorfshint™ deutet sich - siedlungsgenetisch gesehen - eine japanische Dorfkultur an, die weit komplexer ist, als dies im allgemeinen im konventionellen Rahmen der Disziplinen dargestellt wird. Mit der siedlungsgenetischen Methode zeigt sich aber nicht nur eine heute kaum mehr bekannte Kultur <43>. Auf der Basis dieser ethnohistorischen Rekonstruktion lŠsst sich auch einiges in der grossen Tradition neu entdecken. Besonders eindrŸcklich ist, dass sich das fŸr den Dorfshint™ geforderte Zwei-Schichtenbild auch an alten historischen und zentralisierten Schreinsystemen heute noch beobachten lŠsst. Am Hauptfest der folgenden Schreinanlagen erscheinen jeweils Kultbauten, in denen sich Ur-SŠchlichkeit ganz offensichtlich materiell und baulich zum hšchsten Wert verdichtet.

  • In Nara, im Kasuga-Schrein - seit alter Zeit den Fujiwara zugeordnet - spielt das jŠhrlich im Dezember durchgefŸhrte Kultfest (wakamiya no on-matsuri), vor dem sehr roh und primitiv gezimmerten temporŠren SchreingebŠude (otabisho no shinden). Das stark von klassisch-hšfischem GeprŠnge geprŠgte Kultfest auf dem Šusseren Festplatz (otabisho) bildet einen markanten Kontrast zum temporŠren Schrein, offensichtlich, zumindest kategorial ein Relikt aus der Vorgeschichte. (Abb. 24)
  • Der Kamo-Schrein (Kamo-jinja), lange vor der GrŸndung der Stadt Heianky™, des heutigen Ky™t™, in der alten Provinz Yamashiro schon von Einfluss, feiert heute noch alljŠhrlich im Rahmen des Aoi-Festes eine mysterišse Zeremonie (miaresai), in welcher ein Kultmal eine zentrale Rolle spielt ( miaresho), das seiner Beschaffenheit und Form nach deutlich aus der Vorzeit stammt. (Abb. 25)
  • Zweifellos folgt auch die zyklische Erneuerung der ganzen Schreinanlagen in Ise (shikinen sengž) vorgeschichtlichen Dorf-Strukturen. <44> Unter der verfeinerten Ise- Schreinarchitektur findet sich Ÿberdies durchaus noch der toposemantische Verweis auf die vorgeschichtliche Territorialverfassung: der heilige Zentrums-Pfeiler der japanischen Welt (Shin no mi-hashira) entspricht noch dem Typus dšrflicher 'Gšttersitze' (Abb. 26-30)

Schliesslich finden wir auch mit der territorialen Komponente neue ZugŠnge in die japanische FrŸhgeschichte. Offensichtlich ist die Zweischichtigkeit der japanischen Mythen. Einer Grundschicht von Gštternamen der frŸhesten Generationen, die noch deutlich im Schilfmilieu beheimatet ist, folgt eine rŠumlich entwickeltere, chinesisch beeinflusste Ueberlagerung. Es erhŠrtet die These, dass auch der zentralistische Shint™ ursprŸnglich eng mit vorgeschichtlich lokalen dšrflich-bŠuerischen Territorialverfassungen zusammenhing. Dies legt dann auch nahe, dass mšglicherweise die EinfŸhrung des Buddhismus nicht bloss von religišsen GefŸhlen getragen war: er setzte die vorgeschichtlichen Lokalverfassungen ausser Kraft. Sicher haben entsprechende Faktoren auch dazu beigetragen, dass es zur Taika Reform (646) kam, in welcher der Kaiser oberster Landbesitzer wird. Unser Thema zusammenfassend lŠsst sich vielleicht sagen: der sakrale Raum des vorgeschichtlichen Agrar-Dorfes war in Japan konstitutiv fŸr die Geschichte seiner Territorialverfassung.

SCHLUSS

Ausgehend von BOLLNOWs anthropologischer oder siedlungsgenetischer Raumtheorie haben wir uns in Japan mit dem Thema >sakraler Raum< befasst. BOLLNOWs Raum lieferte das Argument zum Herauslšsen der Zelle Siedlung samt ihrem sakralen Raum, den wir als emisch wertzentral, als 'lokale Ontologie' auf die theoretischen Bedingungen hin anpassten. Wir forderten ein Schichtenbild des Dorfshint™ und beschrieben exemplarisch ein Fest als sakrale Topographie. Auf das einzelne Siedlungsbeispiel wurden die Ergebnisse der Untersuchung an hundert benachbarten Dšrfern projiziert.

Indem wir so die heute entwickelten Schreinanlagen des Dorfshint™ in KontinuitŠt setzten mit einer Šlteren explizit toposemantischen Architektur, den Gšttersitzen, liess sich eine KontinuitŠt aufweisen, die von vorgeschichtlichen Dorfkulturen weit in die Geschichte, temporŠr oder mystifiziert im Shint™ vielerorts selbst bis heute reicht. In diesem Kontinuum von hšchsten Werten - im sakralen Raum der Siedlung - erscheint ursprŸnglich die Sicherung des Siedlungsraums von zentraler Bedeutung.

BOLLNOWs Thesen werden damit nicht nur voll bestŠtigt, seine Raumtheorie erhŠlt eine neue Dimension. Kultur rŸckt sehr nahe zum anthropologischen Begriff des Raums. Kulturentstehung, und zwar im 'hohen' Sinne, wird siedlungsgenetisch denkbar im sakralen Raum der Siedlung. YANAGITA Kunio hat es fŸr Japan einst deutlich gesagt: die Kult-Feste (matsuri) sind das Tor zur japanischen Kultur. Und wohl auch ihr eigentlicher Anfang. Zweifellos schšpft Japans Kultur aus seinem 'menschlichen Kultur-Raum' wesentlich auch heute noch seine vielbewunderte Kraft, denn dieser 'menschliche Raum' bedeutet - wie BOLLNOW zeigt - immer auch Identifikation. Zum Schluss: zu Beginn dieses Aufsatzes haben wir darauf hingewiesen, dass die Kategorie Raum, neben jener der Zeit, in zahlreichen Humanwissenschaften grundlegend sei. Zeit wurde immer wieder intensiv reflektiert. Raum dagegen gilt den meisten als selbstverstŠndlich. Dass man so, in den westlichen Human-Wissenschaften, den Raum der Physik und Mathematik ŸberlŠsst, mag - vom 'rŠumlichen Humanismus' Japans aus gesehen - 'dem Menschen im Menschen' nicht unbedingt fšrderlich sein.

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