(Autor: Hermann Schmitz): Replik Phänomenolgie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung
((1)) Ich gliedere meine Erwiderung in drei Abteilungen: 1. Methodenfragen, 2. Phänomenologen, 3. Naturwissenschaft. In der zweiten und dritten Abteilung strebe ich eine Ordnung nach abnehmender Aggressivität der Kritiken an. Ich habe alle Kritiken gründlich ausgearbeitet, doch zwingt mich die Enge des verfügbaren Druckraumes zu harten Kürzungen. Ausführlich bleibe ich, wenn scharfe Kritiken auf groben Mißverständnissen beruhen und wenn interessante Einwände mir Gelegenheit zu ergänzender Klärung und Stärkung der Position meines Thesenpapiers geben, ferner bei den Phänomenologen, die sich von Husserl her über meine Neue Phänomenologie äußern, und bei dem Mediziner, der etwas über deren praktische Brauchbarkeit für sein Fach zu erfahren wünscht. Eine kurze prinzipielle Einleitung der ersten Abteilung ist zum Ver-ständnis des Folgenden unerläßlich.
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((27)) An dem Beitrag von WESTMEYER habe ich nichts auszusetzen, zumal auch er nichts gegen mich einwendet, sondem mit elegantem Schwung die Neue Phänomenologie in den Armen des sozialen Konstruktivismus auffängt. Die zugehörige Skepsis würde ich allerdings nicht wie er ontologisch so ausdrücken wollen: „Etwas ist nicht wirklich, sondern etwasgilt als wirklich." Ich würde lieber sagen: Die Tatsächlichkeit objektiver (und vieler subjektiver) Sachverhalte kann nicht endgültig (für immer und alle), sondern nur provisorisch (durch „Evidenz im Augenblick", Buchtitel von Manfred Sommer) gesichert werden. Dem sozialen Konstruktivismus entspricht in meiner Terminologie der erkenntnistheoretische Explikationismus, darüber zuletzt: Der Spielraum der Gegenwart S. 167-174. Gemäß dem erkenntnistheoretischen Explikationismus besteht Erkenntnis nicht in richtiger Beschreibung von Sachen, sondern in der Explikation von Tatsachen aus der Bedeutsamkeit von Situationen. Diese Gebundenheit des Erkennens an einen kontingenten Hof der Bedeutsamkeit schließt übrigens die relativistische Gestalt der Skepsis vielmehr aus statt ein, weil es für die Wahrheit einer Behauptung lediglich auf die Entscheidung zwischen kontradiktorischen Annahmen ankommt, die immer demselben „Hof' entnommen sind, so daß dessen Unterschied gegen andere solche Höfe für die Wahrheit nicht ins Gewicht fällt Allerdings ist das immer eine Wahrheit in beschränkter Perspektive, nicht in der allumfassenden eines imaginären Alleskenners. Diese Beschränktheit läßt sich potentiell ad infinitum (wenn auch nicht vollständig) ausgleichen durch die Anpassungsund Erweiterungsfähigkeit solcher Höfe der Bedeutsamkeit. Meine von Westmeyer unter ((3)) angeführte soziale Relativierung der Halluzinationen, wofür die Auditionen des Propheten Mohammed ein gutes Beispiel sein könnten, ist eine Anwendung des erkenntnistheoretischen Explikationismus.((28)) MRAS beginnt ihre Kritik mit einer sehr verständnisvollen Einführung; was sie unter ((2)) schreibt, ist eine korrekte Interpretation meiner Bemühungen. Ihre folgende Kritik ist mir nicht durchsichtig geworden, zumal sie mir mit eigenwilligen Umformulierungen Absichten (z. B. in ((5)): „die Ansicht entstehen zu lassen, daß wir immer mehr das verlieren, was unseren Überzeugungen Halt gibt") unterstellt, die mir fern liegen. Eine sehr umständliche Interpretation ihres Textes wäre mir nötig, um bloße Mißverständnisse von diskutierbaren Vorhaltungen zu trennen. Ich bitte, mir zu verzeihen, daß ich diese dann unvermeidlich breiten Ausführungen der Knappheit des Druckpapiers opfere. Ich begnüge mich hier mit zwei Hinweisen: 1. Man möge den kausalen Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf reduktionistischer Grundlage von dem methodischen Reduktionismus der Naturwissenschaft, den ich begrüße, immer scharf unterscheiden. 2. Daß sich Phänomene herausstellen, die unseren Überzeugungen Halt geben können, ist ein kontingentes (nicht von vorn herein mit Sicherheit zu erwartendes) Faktum, liefert aber keineswegs „einen Standpunkt zur Rechtfertigung dieser nicht revidierbaren Überzeugungen", den nach Mras ((II)) ,Hermann Schmitz (...) zu entwickeln scheint", denn prinzipiell nicht revidierbare Überzeugungen kenne ich nicht.
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3. Naturwissenschaft
((51)) KANITSCHEIDERS Haupteinwand ist „natürlich der naive und dogmatische Ausgang der Phänomenologie von der Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" ((33)). Ein solcher Ausgang findet nicht statt, vielmehr der Rückgang auf die unwillkürliche Lebenserfahrung im oben unter ((5)) definierten Sinn alles dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben. Zweck dieses Rückgangs ist das Ende ungeprüfter Dogmatik in radikaler Vergewisserung über das, was der Prüfende jeweils gelten lassen muß, d. h. welchen Sachverhalten er die Anerkennung ihrer Tatsächlichkeit nicht im Ernst entziehen kann. Davon können die absichtlichen Konstruktionen der Naturwissenschaften so wenig wie z. B. die theologischen ausgenommen werden, und dann zeigt sich, daß sie ihre Glaubwürdigkeit allein der Bewährung bei Prognosen für die „Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" verdanken. Das hat Konsequenzen nicht gegen ihre Plausibilität, aber für den Anspruch auf kausale Erklärung dieser Alltagswelt im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes ((24)). Damit ist keine Opposition gegen die Naturwissenschaft verbunden, wenn diese keine überzogenen metaphysischen Ansprüche stellt und nicht „mit hochfahrendem Stolz auf die Objektivität der vermeintlich bloß noch neutralen Tatsachen" ((33)) „blind für Subjektivität" ((34)) wird. Nie habe ich „die Mathematisierung und die experimentelle Methode" beklagt, schon gar nicht in ((17)), wie Kanitscheider mir vorwirft; ebenso wenig habe ich in ((23)) versucht, „das menschliche Erleben von der Aktivität des Gehirns zu trennen", als ob ich bezweifelt hätte, daß die naturwissenschaftliche Gehirnforschung sehr interessante und hilfreiche Korrelationen zwischen ihrem Objekt und dem Erleben ermittelt hat und sicherlich weiter ermitteln wird.
((52)) Die materialistische philosophy of mind ist mir allerdings suspekt, was mich aber keineswegs (wie Kanitscheider behauptet) gehindert hat, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Neurophilosophie solcher Autoren wie Churehland widerlege ich in Was ist Neue Phänomenologie? S. 34-38; ferner verweise ich auf meine Auseinandersetzungen mit G. Roth (Der Spielraum der Gegenwart 5. 16-20) und M. Bunge (Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14.3, 1989, S. 71-73). Die philosophy of mind geht von der antiquierten, phänomenologisch unheilbaren Gegenüberstellung von body und mind (oder mental phenomena) aus, wobei unter mental phenomena das Heterogenste (z. B. persönliche Stellungnahmen, der spürbare Leib, Gefühle als Atmosphären, bedeutsame Situationen) vermischt wird, und stellt diesem immerhin phänomenalen Sammelsurium das naturwissenschaftliche, aus Messungen mit Apparaten der Physik plausibel konstruierte Gehirn (oder auch andere Körperteile) in offen oder verdeckt kausaler Rolle gegenüber. Das kann sogar richtig sein, ist aber als Erkenntnis nicht zu rechtfertigen, wie meine Einwände unter ((24)) und ((26) zeigen; die Kausalität des Gehirns für das Erleben ist so sehr und so wenig wahrscheinlich wie die Kausalität eines übermenschlichen Wesens (c. B. Gottes), das die Ereignisse so steuert, daß die Erwartungen des Gehimforschers so gut oder schlecht, wie die Erfahrung zeigt, bestätigt werden, ohne daß eine physische Kausalität dazwischen kommt. Wenn man der Kausalität durch Identität von Gehirn und Erleben zu entkommen sucht, entgeht man nicht der Forderung kausaler Erklärung dafür, daß das Gehirn auch als Erteben (oder umgekehn) vorkommt, und hat also nichts gewonnen.
((53)) Besonders bezichtigt mich Knnitscheider der Ignoranz wegen meiner Bemerkungen ((27)) - ((29)) zur Physik der Zeit. Die Pointe meiner Argumentation unter ((27)) hat er offenbar nicht verstanden. Die Zeit der Physik ist eine reine Lagezeit, d. h. eine Anordnung von Ereignissen durch die Relation des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. An der Abfolge solcher Ereignisse beobachtet die Physik sogenannte irreversible Prozesse, z. B. Wachstum der thermodynamischen Entropie oder vielleicht Expansion des Universums (Beispiele von Kanitscheider). Sie erfaßt damit in ihrer reinen Lagezeit aber nur monotone Funktionen, deren Werte sich stets in zwei Richtungen ablesen lassen, ohne irgend eine von ihnen auszuzeichnen. Um von der monotonen Funktion zur Richtung eines Prozesses zu gelangen, muß der Physiker eine Anleihe bei seiner unwillkürlichen Lebenserfahrung einer modalen Lagezeit machen, genauer noch bei deren Fluß. Daß dieses Fluß-Bild so metaphorisch ist wie das bei Physikern beliebte vom Pfeil der Zeit, tut trotz Kanitscheider nichts zur Sache, weil ich in ((28)) genau sage, was ich damit meine: daß die Gesamtvergangenheit wächst, die Gesamtzukunft schrumpft und die Gesamtgegenwart wechselt. An diesen Fluß der Zeit muß der Physiker sich halten, nicht, um eine Richtung der Zeit selbst - davon ist nicht die Rede -, sondern, um eine Richtung irgend welcher Prozesse (mit oder ohne „t-Spiegelung") annehmen zu können. Einen Prozeß ohne Richtung kann es aber nicht geben; von Prozessen oder Abläufen kann der Physiker daher nur sprechen, indem er eine Anleihe bei dem in seiner Theorie gar nicht bedachten Fluß der Zeit im Sinne der modalen Lagezeit macht.
((54)) Ganz besonders böse ist Kanitscheider aber meine Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie. „Seit Bergson hat wohl kaum wieder jemand die Spezielle (513T) und die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) so mißverstanden." Das soll bezüglich ersterer der Fall sein, weil diese als reversible Theorie über die Richtung der Zeit keine Aussage mache. Das habe ich ihr auch nicht nachgesagt; von einer Richtung der Zeit ist nicht die Rede, sondern von der Richtung von Prozessen, die die spezielle Relativi-tätstheorie mindestens für Lichtsignale in Anspruch nimmt, um u. u. einen Begriff der Gleichzeitigkeit einzuführen. Gleichzeitigkeit ist ein Begriff nut einer lagezeitlichen und einer modalzeitlichen Komponente. Die modalzeitliche ergibt sich aus dem Axiom: „Mit jedem Ereignis ist jedes und nur jedes gleichzeitige Ereignis gegenwärtig." Dank dieser Unterstellung wird mit der Gleichzeitigkeit auch die Gegenwart lokal relativiert, damit aber auch der Fluß der Zeit; auf diese Weise zerstört eine so verstandene Relativitätstheorie ihre eigenen Voraussetzungen. Ob sie so verstanden werden muß, will ich nicht entscheiden und spreche daher in ((28)) von einem Anschein („Dies scheint die spezielle Relativitätstheorie..."). Keinesfalls betrifft der Fehler die bloß lagezeitliche Gleichzeitigkeit und überhaupt die Zeitmetrik, über die ich mich von der Theorie (etwa betreffend die Abhängigkeit des Alterns vom Bewegungszustand) gern belehren lasse.
((55)) Denselben Fehler, nicht zwischen Lagezeit und Modalzeit zu unterscheiden, begeht Kanitscheider wieder, wenn er mich von der vermeintlichen Dynamik des Weltbildes der allgemeinen Relativitätstheorie belehren will und als Beleg den Gebrauch nennt, den die Kosmologie von „dieser dynamischen Raumzeit" mache. Die Zeit der allgemeinen Relativitätstheorie ist eine reine Lagezeit, die aus dem eben ((53)) angegebenen Grund keine Richtung und keine Prozesse kennt, und daher eo ipso statisch. Die allgemeine Relativitätstheorie benötigt - im Gegensatz zur speziellen - allerdings keine Prozesse mehr, aber dadurch wird sie so statisch, daß der Wissenschaftler, der sie als Beschreibung der Wirklichkeit behauptet, seinem Anspruch, ein Wissenschaftler zu sein, in performativen Widerspruch gerät ((29)). Ob er dabei versucht, „Erklärungen für die unwillkürliche Lebenserfahrung zu bilden", wogegen Kanitscheider ihn in Schutz nimmt, ist für den performativen Widerspruch belanglos. Sofern er aber die allgemeine Relativitätstheorie benützt, um als dynamischer Kosurologe einen Prozeß der Expansion des Weltalls vom Urknall auf Nimrnerwiederschen zu konstruieren, macht er dieselbe Anleihe bei der unwillkürlichen Lebenserfahrung wie jeder Physiker zwecks Behauptung irreversibler Prozesse, s. 9: «53»
((56)) SCHRÖTER läßt einer Skizze seiner an Ludwig angelehnten Theorie der Physik eine scharfe und selbstsichere Kritik meines Thesenpapiers („Entzerrung eines Zerrbildes") folgen. Weil er sich dabei auf die Skizze beruft, gehe ich zuerst auf sie ein. Sie krankt an Gewagtheit und Verschwommenheit, besonders beim Begriff „Wirklichkeitserschließung". Aus einer axiomatisch formulierten physikalischen Vortheorie sollen mit Hilfe eines logischen Beweisschemas „bisher unbekannte Elemente der Wirklichkeit" erschlossen werden; als Beispiel nennt er den „Begriff der Energie in der Mechanik oder Elektrodynamik". Wirklichkeit kann durch logische Beweisschemata nicht erschlossen werden. Solches zu versuchen, war der Fehler des ontologischen Gottesbeweises. „Wirklichkeit" ist ein großes Wort. Ich habe bewiesen, daß es kein Kriterium der Wirklichkeit (im Sinne einer zirkelfrei angebbaren notwendigen und zureichenden Bedingung dafür, daß etwas wirklich ist) geben kann, dafür aber einen empirischen Zugang zur Wirklichkeit (dem Sinn nach, noch vor der Frage, was wirklich ist) angegeben (Der Spielraum der Gegenwart S. 20-37); woher Schröter das Recht nimmt, sich das Wort „Wirklichkeit" in die Feder fließen zu lassen, sagt er dagegen nicht. Wenn er es z. B. auf Energie anwendet, begibt er sich in den hypothetischen Vernunftgebrauch im Sinne von Kant. Wie verschafft die Physik solchen Konstrukten Respekt angesichts der Wirklichkeit? Doch nur durch Bewährung im Bereich aller satzförmig registrierbaren Ergebnisse von Beobachtungen laut Punkt ((24)) meines Thesenpapiers. Solche Bewährung vollbringt in der Physik das die Theorie bestätigende Experiment. Für dessen Leistung hat Schröter den Satz: „Durch Experimente wird die sprachlich erschlossene Wirklichkeit an die Alltagswirklichkeit angeschlossen." ((9)) Was heißt hier „angeschlossen"? Das Wort klingt wie freundliche Herablassung, aber wenn der Anschluß nicht in der Bewährung von Prognosen in der Alltagswelt besteht, ist es um die Glaubwürdigkeit der von physikalischen Theorien erschlossenen Wirklichkeit schlecht bestellt.
((57)) Nun zur „Entzerrung eines Zerrbildes". Vergebens tastet Schröter danach, was ich „Abstraktionsbasis der Physik" nenne. Diese besteht laut ((2)) und ((16)) meines Thesenpapiers in den der unwillkürlichen Lebenserfahrung entnommenen Merkmalsorten, aus denen die in Experimenten gemessenen Daten bezogen werden. Schröter verfällt dagegen auf den Begriff des Ereignisses, der zwar für physikalische Theorien, aber noch nicht fdr die dafür zu Grunde gelegte Abstraktionsbasis konstitutiv ist. „Der Begriff Ereignis umfaßt alles, was in der Welt passiert, sofern es von einem Beobachter (...) registriert ist." (Etwa auch Stimmungsschwankungen und feierliche Stille? Paßt das wirklich in die Physik?) „Da Ereignisse gezielt gesucht und herbeigeführt werden können, ist dieser Begriff nicht auf die (...) unwillkürliche Lebenserfahrung zurückzuführen." Wieso denn nicht? Erstens gibt es viele Ereignisse, die jemandem unwillkürlich widerfahren, und zweitens besteht die Zurückführung gerade in der Feststellung willkürlicher Auswahl oder Manipulation an unwillkürlich vorgegebenem Material.
((58)) Nachdem Schröter den Begriff der Abstraktionsbasis als „der Physik nicht angemessen" zurückgewiesen hat, bleibt er trotzdem dabei, um zu zeigen, daß eine solche Abstraktionsbasis, selbst wenn es sie gäbe, nicht reduktionistisch wäre. Sein Argument besteht in der entwaffnenden Frage: „Denn welche Begriffe sind weniger eingeschränkt als dieser Ich verweise auf den elementaren logischen Satz, daß Inhalt und Umfang eines Begriffes reziprok sind: Je weiter der Umfang, desto ärmer der Inhalt. Zwar ist nach Punkt ((4)) meines Thesenpapiers nicht jede Abstraktion reduktionistisch, aber jeder Reduktionismus ist abstrakt, und wenn die unwillkürliche Le-benserfahrung so kräftig reduziert wird wie in der Physik, kommen Begriffe heraus, die zwar nicht die uneingeschränktesten sind, aber immerhin sehr weiten Umfang haben.
((59)) Mit meinem peiorativen Begriff des Konstellationismus laut ((12)) und ((43)) setzt sich Schröter nach Fehldeutung auseinander. Ich verstehe darunter den Versuch der Ersetzung von Situationen durch Konstellationen, d. h. Vernetzungen einzelner Faktoren, bis zur Verleugnung der Situationen. Aus dieser Frontstellung macht Schröter ein simples Plaidoyer für das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile, und setzt dagegen, daß in der Physik „Komplexität aus Teilen zu gewinnen ist", Aber zur Situation gehört nicht nur Ganzheit, sondern auch binnendiffuse Bedeutsamkeit aus nicht sämtlich einzelnen Sachverhalten, Programmen und Problemen, und die kommt in der Abstraktionsbasis der Physik nicht vor.
((60)) Um das Gericht über meine Charakterisierung der Physik voll zu machen, greift Schröter auch noch die Merkmale der mathematischen Modellierung und der experimentellen Methode an. Aber die mathematische Modellierung ist genau das, was er selbst in ((5)) als „Rahmendefinition des Begriffs physikalische Theorie im L-Konzept" vorschlägt. Und daß die experimentelle Methode für die Experimentalphysik unwesentlich sein soll, ist doch wohl die Höhe. Schröter verweist für diese gewagte Behauptung auf seinen Punkt ((9)), aber dort findet man nur das Schwrunmwort „angeschlossen".
((61)) In ((12)) und ((13)) geht Schröter von der Physik im Allgemeinen zu der von mir in ((27)) - ((29)) angesprochenen Physik der Zeit über. Nach wenigen Zeilen führt ein eigenmächtiger Klammerzusatz seine Polemik auf Abwege. Ich behaupte nach ihm, daß „sich keine eindeutige Richtung (der Lagezeit) ermitteln" läßt. Ich denke nicht daran, der bloßen Lagezeit eine Richtung zuzutrauen; meine These ist vielmehr, daß sich für beliebige Prozesse eine Richtung nur aus dem Fluß der Zeit in dem in ((28)) angegebenen Sinn und damit aus der Modalzeit gewinnen läßt. Diese Pointe hat Schröter nicht verstanden, weil er den Unterschied zwischen einem gerichteten Ablauf oder Prozeß und einer „Signal- oder Kausalrelation", wovon er statt dessen in ((12)) spricht, ignoriert. Eine solche Relation linearer Ordnung zeichnet keine Richtung eines Ablaufs aus, denn die Anordnung durch die Relation des Früheren zum Späteren im abstrakt mathematischen Sinn stimmt genau überein mit der Anordnung durch die Relation des Späteren zum Früheren. Das gilt auch für die mit fragwürdigem Recht so genannten irreversiblen Prozesse, die man gemäß dem Zeitbegriff der theoretischen Physik nach Belieben als monoton wachsende oder monoton abnehmende Anordnungen auffassen kann. Sobald man freilich von der Gegenwart des Beobachters spricht, hat man den Fluß der modalen Lagezeit eingeholt, aber nur verbal; in der Tat ist man aus der physikalischen Theorie in die unwillkürliche Lebenserfahrung hinübergesprungen, denn für die Physik ist Gegenwart irgend ein Zeitpunkt, und daß es einen vor allen anderen Zeitpunkten ausgezeichneten, den gegenwärtigen, gibt, kommt in ihr nicht vor.
((62)) Unter ((13)) bestreitet Schröter, daß es zwischen spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie einen Unterschied im Zeitbegriff gebe, weil die spezielle Theorie ein Spezialfall der allgemeinen sei. Das ist schon logisch nicht korrekt, denn vom speziellen Fall darf man nicht auf den allgemeinen schließen. Abgesehen davon sehe ich den Unterschied darin, daß man fdr die spezielle Relativitätstheorie Prozesse benötigt, in der allgemeinen aber mit Ordnungsrelationen (a B. Signalrelationen) auskommt. Auf diesen Unterschied habe ich gerade aufmerksam gemacht. Zu dem Einwand, die allgemeine Relativitätstheorie sei nicht statisch, s. o. ((55)).
((63)) Unter ((14)) weist Schröter die mir von ihm zugeschriebene Behauptung zurück, die Naturwissenschaften strebten eine umfassende Erklärungsleistung an, aber das habe ich nie behauptet; in ((21)) benenne ich „Vorkämpfer der Naturwissenschaft in der öffentlichen Meinung (oft selbst Naturwissenschaftler)" für einen solchen Anspruch, keineswegs „die Naturwissenschaften" oder - eine andere Formulierung von Schröter - „die (Vertreter der) Naturwissenschah". In den Schlußabschnitten ((15)) und ((17)) legt Schröter eine Giftspur. Der Tenor von ((15)) geht dahin, es habe keinen Sinn, mit solchen Sonderlingen wie mir über Physik zu sprechen. Dieses wegwerfende Urteil unterbaut er unter ((16)) mit einer Anschwärzung, die mich zum Adepten der hippokratischen Medizin und Astrologie verdreht und dem Spott aufgeklärter Wissenschaftler wie Schröter aber so viel Obskurantismus aussetzt. Hätte Schröter den letzten Satz von Punkt ((42)) meines Thesenpapiers berücksichtigt, wäre ihm die Chance solcher Herabsetzung entgangen.
((64)) HOFMANN wagt einen „Großangriff' auf zentrale Positionen von mir, wofür ich ihm sehr danke, weil er mir Gelegenheit zur Profilierung gibt. Meine Kritik beruht nach ihm auf „Mißverständnissen und unschlüssigen Argumenten" ((2)). Genau das möchte ich nun der seinigen nachweisen. Diese beginnt mit einigem Vorgeplänkel. Aus meinem Punkt ((11))• liest er in ((1)) heraus, die Naturwissenschaft habe die wichtigsten Massen der Lebenserfahrung vergessen, und verweist mich auf naturwissenschaftliche Studien zu Gefühlen, Körperwahrnehmung, Kommunikation und Situationen. Dabei unterschlägt er in meinem Punkt ((11)) das Wort „damals", d. h. zur Zeit Demokrits und Platons. Die mächtige Prägekraft ihres Paradigmas wirkt bis heute verkürzend und verzerrend auf die entsprechenden naturwissenschaftlichen Studien und macht deren phänomenologische Ergänzung erforderlich. Für ungünstige Wertungen, die er in ((5)) aus meiner Wortwahl heraus liest, vermißt er eine Begründung, die er in ((49)) hätte finden können. Die Vorwürfe wegen Wortwahl sind aber unberechtigt. Ich schreibe in ((4)) „zersetzt", nicht — wie er ergänzt — „zersetzend", ein Wort aus dem Nazi-Jargon, das man aus Geschmacksgründen heute nicht unnötig andeuten sollte, „Abfall" nur in Bezug auf bei Abschleifung abfallende Späne und „langweilig" nicht als Vorwurf an die Naturwissenschaft, sondern an eine Welt, die es zum Glück nicht gibt. Ein weiterer Vorwurf Hofmanns in ((5)) betrifft vermeintliche Unschärfe meines Begriffs der Bedeutsamkeit. Ich verwende das Wort in folgendem Sinn: Bedeutsamkeit ist chaotisches Mannigfaltiges von Bedeutungen. Chaotisch ist Mannigfaltiges, das nicht nur Einzelnes enthält. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (anders ausgedrückt: was Element einer endlichen Menge ist). Bedeutungen sind Sachverhalte, Programme und Probleme. ((65)) In ((6)) beginnt Hofmann seinen Angriff gegen meine Kritik am Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Schon dessen Kennzeichnung in ((21)) wird falsch wiedergegeben, erst recht mein Argument in ((24)). Abgesehen von anderen Mißverständnissen, unterstellt er mir aus ((24)) folgende These: „Die Rechtfertigung jeder Kausalaussage über (einen Teil von) W liegt allein darin, daß K durch eine Wahrnehmung (eines Teils) von W bestätigt wird." Durch die eigenmächtigen Klammerzusätze wirft Hofmann mein Argument aus der Bahn. Meine Kritik richtet sich nur gegen den Anspruch auf globale Erklärungsleistung mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild als kausalem Explanans und dem, „was Menschen als sie betreffend oder von ihnen erfahren oder sonst sie berührend erleben" ((21)) als kausalem Explanandum, einen Anspruch, der im Prinzip erhoben wird, auch wenn die Ausführung dahinter zurückbleibt. Dieser Ansprach hat zwei wunde Stellen, die ich in meiner Kritik herausarbeite: 1. Es werden Kenntnisse über kausale Zusammenhänge ohne rechtmäßige Grundlage in Anspruch genommen; diesen Einwand formuliere ich in ((24)). 2. Gemäß dem naturwissenschaftlichen Weltbild verläuft die Verursachung des Erlebens einzelner Menschen in zwei Stufen. Die erste Stufe besteht darin, daß äußere Reize an die Körper der Menschen gelangen. Die zweite Stufe besteht darin, daß diese Körper als ganze oder mit Teilen solche Reize verarbeiten oder neue hinzufügen. Erst in einem dritten Schritt von diesen Transformatoren aus soll das Erleben der einzelnen Menschen kausal erklärt werden. Bei der Auswahl der relevanten Körperteile sind verschiedene Schulen verschieden großzügig; im Mittelpunkt steht aber das Gehirn. Daraus ergeben sich abermals (mit der Summe des Erlebens einzelner Menschen statt der Gesamtheit des Erlebens aller Menschen) meine Einwände aus ((24)) und zusätzlich die aus ((26)). Da durch diese Bedenken die globale Erklärungsleistung des naturwissenschaftlichen Weltbildes unglaubwürdig wird, ergibt sich eine Schwankungsbreite für die Auswahl seiner kausal erklärenden Teile. Deswegen habe ich in ((25)) geschrieben, es sei jedem überlassen, was davon er als nicht bloß prognostisch bewährt, sondem auch kausal erlärend gelten lassen will, aber wenig solle es nicht sein. Das war nicht ironisch gemeint. Viele Theorien der Naturwissenschaft sind so scharfsinnig und plausibel ausgedacht und experimentell so gut bewährt, daß es schwer fallt, ihnen den Glauben zu verweigern.
((66)) In ((9)) unterstellt mir Hofmann die tolle Behauptung, nach der „Gnindaussage der Neuropsycholog,ie" sei alles, was wir erleben und denken, nur eine vom Hirn verursachte lllusion. Statt dessen habe ich in ((26)) aus den betreffenden Thesen nur gefolgert, daß gemäß der Neuropsychologie alles, was sich Menschen darstellt, eine Vorspiegelung ihrer Gehirne wäre, die nur zufällig ein getreuer Spiegel sein könnte. Aber das kann sie zufällig doch sein.
((67)) Daß die Naturwissenschaft Selbstbewußtsein und Subjektivität ausklammere, habe ich nicht behauptet, wie mir Hofmann in ((1ft)) unterstellt, wohl aber, daß sie dabei zu kurz greift, indem sie die subjektiven Tatsachen übersieht. Gegen diesen Einwand macht sich Hofmann zu ihrem Advokaten, indem er behauptet, daß es keine subjektiven Sachverhalte gibt, sondem nur verschiedene Gegebenheitsweisen desselben Sachverhaltes, einmal in der eigenen, subjektiven Perspektive (daß ich traurig bin), zweitens in der fremden (daß der da tmurig ist). Um den Irrtum dieser Wegdeutung zu erkennen, muß man nur scharf die Definitionen objektiver und subjektiver Tatsachen (entsprechend: untatsächlicher Sachverhalte) festhalten: Objektiv oder neutral ist eine Tatsache, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; subjektiv ist eine Tatsache, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Wenn ich sage „Ich bin sehr, sehr traurig" und dann nachspreche, was darüber ein anderer sagen will, also etwa „Hermann Schmitz ist sehr, sehr traurig", nun aber davon absehend, daß ich Hermann Schmitz bin, hat die erste Aussage einen Überschuß über die zweite, denn jene geht mir— vorausgesetzt, es stimmt — wirklich sehr nahe, während die zweite mich ziemlich kalt läßt, obwohl in beiden Fällen das Selbe von dem Selben ausgesagt wird. Der Unterschied liegt also nicht am Inhalt (d. h. dem, was ausgesagt wird, und wovon), sondem an der Form der Tatsächlichkeit als erstens subjektive, zweitens neutrale. Dieser Unterschied kann nicht auf eine bloße Gegebenheitsweise abgewälzt werden. Die Besonderheit einer bloßen Gegebenheitsweise ist nämlich voll. ständig durch Aussage einer objektiven Tatsache darstellbar. Gesetzt z. B., daß mir auf Grund eines momentanen Sehfehlers der Laternenpfahl vor mir nur in verschwommener Weise gegeben ist, so ist diese Thtsache nicht weniger neutral und objektiv als die Tatsachen, daß der Pfahl anderen Leuten deutlich gegeben ist und nichts von seiner gewöhnlichen Bestimmtheit gebüßt hat. Dagegen ist der Uberschuß an Darstellung einer Tatsache durch meinen Ausspruch „Ich bin traurig" über die entsprechende Darstellungsleistung eines neutralisierten Ausspruches der Form „Hermann Schmitz in traurig" (ohne Rücksicht darauf, daß ich er bin) nicht von dieser Art, denn er läßt sich höchstens von mir aussagen, von anderen nur mittelbar durch Umschreibung, indem sie explizit oder implizit auf eine wirkliche oder fit:- gierte Aussage von mir Bezug nehmen, etwa in der Form: „die Tatsache, die Hermann Schmitz jetzt mit den Worten pp. darstellen könnte." Also gibt es sehr wohl subjektive Sachverhalte. Daraus folgt ober nicht, daß der Satz ganz falsch wäre, mit dem Hofmann ((10)) schließt: „Private Sachverhalte oder Tatsachen gibt es nicht." Es kommt darauf an, was man unter „privat" versteht. Wenn man Sachverhalte meint, die bloß einer kennen kann und zu deren Darstellung eine Privatsprache ä la Wittgenstein nötig wäre, gebe ich Hofmann recht (außer für extreme Ausnahmefälle wie die Entrückung des Apostels Paulus in den siebenten Himmel, wo er sah, was kein Auge je gesehen hat, und hörte, was kein Ohr je gehört hat), aber davon war hier nicht die Rede.
((68)) Meine Stellungnahme zur Kritik von KEIL kann kurz ausfallen, weil seine Einwände größtenteils schon in den bisherigen Erörterungen abgearbeitet worden sind, etwa in denen zu Kanitscheider und Schröter bezüglich des physikalischen Zeitverständnisses, in der Auseinandersetzung mit Hofmann ((67)) zur Subjektivität, bezüglich der Situationen (deren binnendiffuse Bedeutsamkeit Keil mit der unerschöpflichen Eigenschaftsfülle einzelner Dinge verwechselt, obwohl Einzelheit von Dingen nach meiner Lehre von der Explikation einzelner Bedeutungen aus Situationen abhängt) in ((59)) und ((64)), hinsichtlich des Obskurantismus-Verdachtes in Keils Punkt ((8)) in ((63)) und bezüglich des Vorwurfes ungenügender Genauigkeit meiner Methode phänomenologischer Revision im letzten Satz seiner Kritik in ((5)). Zu dem philosophiegeschichtlichen Geplänkel in ((2)) will ich jetzt nur sagen, daß ich niemals „Substanzen als dem Atomismus zugesetzte Parameter" ausgegeben habe; für das Nähere verweise ich auf mein Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie S. 19-24. Zu ((3)): Mc Taggart's A-Reihe entspricht in meiner Terminologie nicht die Modalzeit schlechthin, sondern die modale Lagezeit. In zwei Hinsichten stimme ich Keil zu: bezüglich der Kraft ((5)) mit dem Hinweis, daß zu Ereignissen als kausalen Relata das eben genannte Buch S. 24-26 sowie Der Spielraum der Gegenwart S. 250 verglichen werden kann; ferner bezüglich des Vorwurfes eines Phänomenalismus in ((6)), der bei mir aber nicht bestreitender, sondern vergewissernder Phänomenalismus ist, ein Erbe Humes, des „Urphänomenologen" nach Punkt ((34)) meines Thesenpapiers. Der Rückgang auf die Phänomene endet oft (nicht immer) bei Er- fahrungen und Erlebnissen. Zu Unrecht wirft mir Keil aber vor, ich beschäftigte mich nicht genug „mit der Wirklichkeit, die da erfahren wird" ((6)); dagegen s. o. ((56)) zu Schröter.
((69)) STAUDACHER versieht das naturwissenschaftliche Weltbild mit globalem Erklärungsanspruch laut ((21)) meines Thesenpapiers mit dem Kürzel „ANW" (für: „anerkannte Version des naturwissenschaftlichen Weltbildes") und fragt bezüglich der von mir dort in ((11)) genannten, bei der Introjektion vergessenen und in der Naturwissenschaft entsprechend unzulänglich behandelten Massen der Lebenserfahrung: „Warum soll ANW nicht mit diesen Beschreibungen kompatibel sein?" In dieser Frage steckt ein Mißverständnis. Ich habe gegen kausale Erklärungen nichts einzuwenden, abgesehen von Vorbehalten wegen Verschwommenheit der verwendeten Kausalbegriffe. Eine denkbare Erklärung des menschlichen Erlebens und seiner Inhalte ist die physikalische, eine andere die theologische, daß Gott oder ein anderer übermenschlicher Geist alles so steuert, daß die vom Naturwissenschaftler erwarteten Ergebnisse ohne Wirksamkeit physischer Ursachen herauskommen. Beide Erklärungen stimmen im Ergebnis überein, aber die theologische hat einen Vorzug. Er ergibt sich aus meinem Nachweis (Der Spielraum der Gegenwart S. 32-37; Was ist Neue Phänomenologie? S. 112-131), daß Einzelheit Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) voraussetzt. Die Physik hat bedeutsame Situationen und daher auch Bedeutungen nicht in ihrer Abstraktionsbasis und erliegt daher dem Vorurteil, daß etwas, ohne im Licht einer vorgängigen Bedeutung als etwas zu stehen, einzeln sein könnte; Gott paßt eher in ein solches Licht. Von solchen Erwägungen ist aber in meinem Thesenpapier nicht die Rede. Da geht es nicht um die logische Möglichkeit, die Kompatibilität, sondern um die erkenntnistheoretische Berechtigung der von ANW beanspruchten Kausalerklärung. 1(70)) Sehr interessant ist Staudachers Einwand in ((8)) gegen Punkt ((26)) meines Thesenpapiers: „Viele Vertreter von ANW würden nämlich darauf insistieren, daß die unmittelbaren Gegenstände unserer Wahrnehmung die uns umgebenden Gegenstände in Raum und Zeit sind, an deren kausaler Vorgeschichte das Gehirn nicht den geringsten Anteil hat." Das verblüfft mich, denn ich hatte angenommen, daß in ANW mindestens für die spezifischen Sinnesqualitäten — die in der philosophy of rnind viel diskutierten Qualia — ein kausaler Anteil des Gehirns postuliert werde; von da könnte man mit Berkeley das Entsprechende für primäre Qualitäten erschließen. Wenn aber Anhänger von ANW glauben sollten, daß z.B. die häßliche graue Masse eines in Formalin gelegten Gehirns genau in der Weise, wie sie gesehen wird, ohne kausale Beteiligung des Gehirns des Zuschauers vorhanden sei, würde ich das Argument ((24)) meines Thesenpapiers etwas umformulieren. Ich würde, statt von der Menge aller satzförmig registrierbaren Beobachtungen, von der Menge aller sinngemäßen Verständnisse von Beobachtungssatzaussprüchen sprechen. Daß daran Gehirne kausal beteiligt sind, wird jeder Anhänger von ANW zugeben, und mehr hat der Naturwissenschaftler nicht zur Verfügung, um seine kausalen Erklärungen durch erfolgreiche Prognosen zu bewähren.
((71)) Unter ((5)) und ((6)) kommentiert Staudacher unpolemisch, aber zweifelnd meine Lehren von der Räumlichkeit der Gefühle und der Verschiedenheit zwischen Leib und Körper, wobei er aber nur meine frühen „Pionierarbeiten", nicht die späteren Nachbesserungen (zuletzt in Was ist Neue Phänomenologie?) berücksichtigt. Unstrittig ist zwischen uns, was er mir in ((5)) entgegenhält: „Denn aus dem Umstand, daß uns etwas als räumlich erscheint, folgt nicht, daß es tatsächlich räumlich ist." Ich verallgemeinere dieses Bedenken zu der These, daß wir von nichts, das uns als tatsächlich erscheint, mit übermomentaner Gewißheit wissen können, daß es tatsächlich so ist. Mein doppelt relativierter Phänomenbegriff ((41)) ist auf dieses Bedenken abgestimmt. Zu Staudachers Verblüffung über meine geringe Anteilnahme an den Identitätstheorien der neuesten philosophy of rnind (s. Anmerkung 8 seines Papiers) s. o. ((52)).
((72)) Staudacher endet mit Andeutung einer Motivation von ANW: „eine plausible Erklärung dafür zu finden, worum die Naturwissenschaften solch eine Erfolgsgeschichte aufweisen, ohne dabei Magie ins Spiel bringen zu Mässen." Das ist psychologisch sehr verständlich, aber deswegen erkenntnistheoretisch noch lange nicht legitim; übrigens gibt es andere, ebenso plausible Erklärungen, s. o. ((69)), wofür nicht einmal Gott bemüht werden müßte, sondern irgend ein übermenschliches Wesen genügen würde, das in mehr als 3 räumlichen Dimensionen existiert und ausreichend Intelligenz har, um transfinite Ordnungszahlen mühelos effektiv durchzuzählen.
((73)) Ein Mißverständnis möchte ich noch aufklären: Staudacher schreibt mir in ((2)) eine vergleichende Bewertung von Abstraktionsbasen zu, die mir fern liegt. Ich bewundere den antiken Atomismus und die modeme Physikfür ihre geschickt reduzierte Abstraktionsbasis wegen der großen damit erzielten Erfolge. Die Abstraktionsbasis ist unschuldig. Mein Angriff gilt der Ideologie, die daraus die Aufmarschstellung für den Anspruch auf umfassende kausale Erklärung der unwillkürlichen Lebenserfahrung macht.
((74)) GHIN wendet sich (mit einer miss- ja unverständlichen Bemerkung in ((8)): „Was Schmitz voraussetzt, ist die Möglichkeit, daß es ein eingeschlossenes, inneres oder privates Bewußtsein gibt, welches die Gesamtheit aller Bewußtseinsinhalte erzeugt") gegen meine in ((26)) vorgebrachte Kritik an der vermeintlichen Kausalität des Gehirns für die Inhalte menschlichen Erlebens. Daran ändert sich aber nichts durch das Veto, das er mir in ((10)) entgegenschleudert: „Es ist im Rahmen der Theorien der modernen Bewußtseinspsychologie nicht möglich, ein von der physischen und sozialen Umwelt abgetrenntes Gehirn als Ursache anzunehmen." Zunächst freue ich mich, diesem Satz entnehmen zu können, daß der radikale Konstruktivismus mit seinen Ansprüchen auf Autopoiesis des Gehirns (Maturana, v. Förster) in der modernen Bewußtseinspsychologie keine Chance mehr hat. Dann aber möchte ich zweierlei gegen das Veto vorbringen. Erstens ist das keine Errungenschaft der modernen Bewußtseinspsychologie. Neu ist höchstens die Betonung der sozialen Umwelt, aber die geht vielleicht schon etwas zu weit, denn es gibt auch einsame Zustände bewußten Erlebens, wenn z. B. ein Schwimmer draußen im Meer mit dem Ertrinken kämpft. Zweitens übersieht Ghin über der von ihm postulierten inhärenten Intersubjektivität des individuellen menschlichen Bewußtseins, für die er in ((9)) Thompson zum Zeugen aufruft, die Privatheit des materiellen Substrats. Jeder Mensch hat sein nur ihm eigenes Gehirn, seinen eigenen Körper. Wenn in meinem Körper z. B. ein Karzinom versteckt sein sollte, wäre noch lange nicht die ganze Menschheit krebskrank.
((75)) In ((101) konzediert Ghin meinen Ausführungen in ((26)): ,Es ist durchaus möglich, daß sich der Neuropsychologe zu einem bestimmten Zeitpunkt täuschen kann, wenn er etwa nicht existente Gehirne und Kollegen wahrnimmt." Falls er glaubt, damit die Tragweite meines Argumentes in ((26)) genügend berücksichtigt zu haben, irrt er. Die grundsätzliche Möglichkeit von Täuschungen besteht immer und in jeder Hinsicht. Mein Argument geht dahin, daß jemand, der das Gehirn für die Ursache des Erlebens hält, keinen vernünftigen, erkenntnistheoretisch haltbaren Grund zu der Vermutung hat, daß er sich nicht täuscht (daß vielmehr das phänomenale Gehirn das kausale hinlänglich getreu spiegelt).
((76)) Bei dem Versuch, auf die Kritik von LEIBER zu erwidern, rutsche ich sozusagen ab, da er selten eigene Behauptungen aufstellt, vielmehr Zensuren und Bewertungen verteilt, und oft nicht genau auf meinen Text eingeht, so daß ich teils nicht weiß, wie ich ihn zufrieden stellen soll, teils durch Richtigstellungen von weiterführender Auseinandersetzung abgehalten werde. Zuerst aber will ich hervorheben, was mir gefällt: erstens in ((11)) die Zulassung einer „Komplernentaritätsoder Kompensationsfunktion" der Phänomenologie für die Naturwissenschaft. In ((8)) vermutet Leiber bei mir allerdings stirnrunzelnd die Tendenz, phänomenologisches Besinnen als das gründlichere gegen naturwissenschaftliches Denken auszuspielen. Es kommt darauf an, was man „gründlich" nennt. Auf den Grund dessen, was man gelten lassen muß, geht gute Phänomenologie mehr als Naturwissenschaft. Sofern aber Gründlichkeit in Sorgfalt besteht, kann sie froh sein, wenn sie der Naturwissenschaft gleichkommt. Zweitens begrüße ich die Vermutung in ((1)), der Anspruch „der Naturwissenschaft" — o bitte doch nicht der Naturwissenschaft, sondern des naturwissenschaftlichen Weltbildes im Sinne von ((21))— solle „auf der Grundlage der Unterscheidung von ,objektiven und neutralen Tatsachen' (...) und den ,härteren subjektiven Tatsachen'" abgelehnt werden. So habe ich in meinem Thesenpapier nicht argumentiert, aber die Anregung ist brauchbar. In der Tat nimmt die Naturwissenschaft von den subjektiven Tatsachen keine Notiz. Das ist ihr nicht vorzuwerfen, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt. Sobald jemand aber mit den Ansprüchen des naturwissenschaftlichen Weltbildes darüber hinausgeht, rächt sich die Verkennung in Gestalt der philosophisch naiven Abservierung der menschlichen Freiheit auf Grund eines angeblichen Determinismus im Gebiet der objektiven Tatsachen, s. o. ((4)).
((77)) Nun kurz zu den Richtigstellungen (ohne Vollständigkeit). Zu ((2)): Ich habe nie „ein Scheitern der Physik konstatieren" wollen. Zu ((6)): Ich habe nicht behauptet, daß es „so etwas wie die anerkannte Version des naturwissenschaftlichen Weltbildes gibt", sondern in ((2I)) nur, daß die Forschungsergebnisse zu einem solchen integriert werden sollen, für welches schon im voraus die vollmundigen Erklärungsansprüche erhoben werden. Zu ((1)): Leiber begeht denselben Fehler wie Hofmann, so. o. ((64)), in meiner These ((11)) das Wort „damals" zu übersehen. Zu ((7)): Meine These ((26)) versteht Leiber falsch wie Hofmann und zieht daraus den Schluß, ich mutete irgend welchen Naturforschem einen Solipsismus zu, dazu s. o. ((66)). Zu (18)). Die Einwände von Leiber gegen meine Thesen zur Physik der Zeit sind bereits in der Auseinandersetzung mit Kanitscheider und Schröter besprochen worden.
((78)) Noch drei Einzelpunkte: Leiber fragt zu ((16)) in ((2)), ob die Zirkel physikalischer Begriffsbildung durch den non-statement-view aufgehoben werden. Ich antworte: ja, sofem der view darin besteht, die Axiome physikalischer Theorien nicht als Sätze zu verstehen, sondern als Satzformen mit freien Variablen, wie in der abstrakten Mathematik, z. B. der Hilben'schen Geometrie mit ihren "impliziten Definitionen"; denn voneinander abhängige freie Variable in einer Satzfunktion erzeugen keinen Zirkel wie voneinander in der Bedeutung abhängige Namen. Die mengentheoretischen Konstrukte, die uns die „Strukturalisten" statt der Sätze und Formeln auf dem Papier als physikalische Theorien anbieten, interessieren mich viel wenigen Leibers Behauptung unter ((3)), Hume habe kein Band zwischen Ursache und Wirkung vermißt, sondern nur deren analytisch notwendige Verknüpfung bestritten, ist falsch; er hat seine Kausalskepsis auf beide Weisen begründet. Unter ((7)) fragt Leiber zu meiner These ((25)): „Aber wer erhebt in den Naturwissenschaften tatsächlich einen solchen Anspruch, naturwissenschaftlich zu erklären, welches die unbedingten Letztheilen unserer existentialen Verfaßtheiten und der von uns erfahrenen Welt sind?" Außer auf Schiemann, s. o. ((21)), verweise ich ihn auf folgenden Satz in dem Papier von Kanitscheider unter ((6)): „Die Wissenschaft intendiert in der Tat dos Verstehen aller Bereiche der Natur, elnschließlich der Subjektivität, der Individualität und dem Ich-Bewußtsein der Forschenden." (Er meint die Naturwissenschaft.) Beide sind Philosophen, vielleicht auch Naturwissenschaftler. Naturwissenschaftler sind gewiß die ideologisch militanten Gehirnforscher.
((79)) Die Kritik von SOENTGEN ist schärfer ausgefallen, als es die Sache verdient. Ich glaube nicht, daß bei genauer Prüfung ein nennenswerter Gegensatz der Überzeugungen bleibt. In ((1)) schreibt mir Soentgen eine „Frontstellung gegen die westliche Kultur überhaupt" zu. Eine ungeheuerliche Unterstellung! Ich habe oft betont, daß die Engen der europäischen Intellektualkultur durch die Freizügigkeit hauptsächlich im Kultursystem der Phantasie (Dichtung) kompensiert oder wenigstens abgefedert werden, und diese Ergänzung namentlich an der Geschichte der Liebe in Europa verfolgt. Gleich im folgenden Satz unterstellt Soentgen einen „Angriff auf die Naturwissenschaft"; dazu und zu den Fortführungen des Themas durch Soentgen wird genügen, was oben ((65)) zu Hofmann und an anderen Stellen dieser Replik gesagt ist. Die für Soentgen „überzeugendere Position" Husserls in dem von ihm unter ((9)) angeführten Zitat ist ganz die meine. Zu einer „prinzipiellen Entfremdung ,der' Naturwissenschaft von Phänomenen (oder der Lebenserfahrung)", wovon sich Soentgen in ((10)) durch mich nicht überzeugen lassen will, die ich so allgemein aber gar nicht behaupte, kann es freilich kommen, wenn die von der reduktionistischen Abschleifung übrig gelassenen, primären Sinnesqualitäten mit den zugesetzten Konstrukten so zu einer konstruierten Hinterwelt verschrnolzen werden, daß der introjizierte Rest der Lebenserfahrung auf den Status „mentaler Phänomene", die aus der Hinterwelt zu erklären sind, herabsinkt.
((80)) Soentgen wirft mir vor, daß ich die Bedeutung der Physik für die Naturwissenschaft überschätzte. Ich gebe ihm zu, daß die Abstraktionsbasis spezieller Naturwissenschaften wie Chemie, Biologie (einschließlich Medi. zin) und Geowissenschaften breiter als die der Physik ist, oder, wie ich in ((18)) sage, „scheint" — scheint, weit sich die größere Breite auf die ars invenicndi und die vorläufige Bestätigung bezieht, während sich Er die streng naturwissenschaftliche Bestätigung auch solche spezielleren Wissen. schatten auf die Messung mit nach Theorien der Physik konstruierten Ap. paraten zurückziehen. Insofern ist die Physik weniger die gebärende als die stillende Mutter der anderen Naturwissenschaften.
((81)) Mein Thesenpapier bereitet Soentgen Verständnisschwierigkeiten. Ihm ist nicht klar geworden, was ich „Abstraktionsbasis" nenne, doch scheint es sich ihm um das zu handeln, was Thomas Kuhn „Paradigma" nennt. Da er seine Unklarheit nicht präzisiert, weiß ich nicht, wie ich ihm helfen soll. Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was aus der unwillkürlichen Le. benserfahrung so aufgenommen wird, daß es in Begriffe, Theorien und Bewertungen Eingang findet. Im Fall der Physik sind das die primären Sinnesqualitäten. Ein Paradigma nach Kuhn scheint mehr zu enthalten, nämliche eine ausbaufähige Rahmentheorie. Für die Frage, was die unwillkürliche Lebenserfahrung ist, verweise ich Soentgen auf die oben unter ((5)) gegehe. ne Definition. Daran dürfte sich ablesen lassen, daß seine Gleichsetzung der unmittelbaren mit der durchschnittlichen Lebenserfahrung ((9)) problematisch ist. Damit verliert sein Versuch, den Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Phänomenologie als konstruiert zu erweisen ((9)), die Stütze an der Feststellung in ((10)): „Über Alltagserfahrungen kann man sich (...) sowohl mit Natursvissenschaftlem als auch mit Phänomenologen unterhalten." Der Gegensatz, wie ich ihn sehe, besteht nicht in Konfrontation, die sich nur aus überzogenen Ansprüchen ergibt, sondern in Forschungsrichtungen, die von der Alltagserfahrung ausgehen und im einen Fall auf die Bereitstellung theoretischer und praktischer Voraussetzungen menschlicher Lebensführung durch sich bewährende Prognosen abzielen, im anderen Fall auf Herausschälung dessen, was man gelten lassen muß. Beide Richtungen können einander ergänzen.
((82)) REHBOCK teilt viele meiner phänomenologischen Überzeugungen und Bestrebungen, glaubt aber, zweierlei gegen mich in Schutz nehmen zu müßen: 1. den Anspruch der Naturwissenschaft auf „Erkenntnis der Realität" gegen dessen angebliche Verkürzung durch mich auf eine bloß „technisch-instrumentelle Bedeutung" ((2)); 2. das Recht einer Vernunftkritik durch „transzendentale Analysen" ((9)) gegen meine Bestimmung der Phänomenologie als empirische Wissenschaft. Zum ersten Desiderat habe ich schon genug gesagt in meinem Thesenpapier unter ((25)) und hier zu Hofmann unter ((65)) und zu Staudacher unter ((69)) und ((72)). Einer verkehrten Alternative unterwirft Rehbock meinen Begriff einer reduktionistischen Abstraktionsbasis in ((3)). Ich hatte gehofft, mit Punkt ((4)) des Thesenpapiers solchen Mißverständnissen vorgebeugt zu haben. Abstrakte, aber nicht reduktionistische Abstraktionsbasen sind in meinem Sinn solche, die impressive Situationen oder vielsagende Eindrücke in typisierter Form durchlassen. Eine impressive Situation ist Situation, weil irgend welche Bestände durch eine Bedeutsamkeit in dem unter ((64)) angegebenen Sinn ganzheitlich zusammengehalten werden, und impressiv, weil diese Bedeutsamkeit ganz (nicht nur stückweise) präsent ist. Der Versuchung, mich ausschließlich vormodemer Medizin anzuvertrauen ((4)), bin ich nicht ausgesetzt, s. o. ((63)). Was das zweite Desiderat angeht, vermisse ich eine genaue Bestimmung des Begriffes der Vernunft. Anscheinend läßt Rehbock die Vernunftkritik erst mit Platon beginnen, der „ein entschiedener Kritiker Demokrits" ((5)) gewesen sei; sie übersieht, daß schon Demolcrit ein entschiedener Kritiker Demokrits und Vernunftkritiker gewesen ist, vgl. 68 B 125 Diels/Kranz. Die negative Theologie und die Mystik, die nach Rehbock die Fackel der Vernunftkritik im Christentum hochgehalten haben, habe ich keineswegs in Punkt ((14)) meines Thesenpapiers dem mir von Rehbock in ((5)) unterstellten Verdacht aussetzen wollen, sie dienten der Unterjochung des Menschen unter die Macht Gottes. Sofern Vernunftkritik in gründlicher Selbstbesinnung auf die Voraussetzungen eigener Ansprüche besteht, ist sie selbstverständlich unerläßlicher Bestandteil der Philosophie, s. o. ((3)). Transzendentale Analysen lasse ich nur in Gestalt transzendentaler Argumente gelten, d. h. solcher, die performative Widersprüche aufdecken, d. h. solche, die nicht im ausgesagten Inhalt bestehen, sondern im Aussagen, weil der Sprecher sich durch Ansprüche, die er erhebt, das betreffende Behaupten selbst verbietet. Mein Einwand gegen die allgemeine Relativitätstheorie ((29)) ist ein solches Argument; ein analoges könnte man gegen Wissenschaftler vorbringen, die die Dauer der Person bestreiten. Weitere SinnIclärungen überlasse ich der phänomenologischen Revision als empirischer Methode, s. o. ((47)).
((83)) Rehbock bestreitet meine Unterscheidung subjektiver und objektiver Tatsachen in ((8)) mit untriftigen Gründen. Die Unfähigkeit der Mitmenschen, die für jemand subjektiven Tatsachen auszusagen, steht ihrem Wissen darum und der Mitteilbarkeit dieser Tatsachen nicht im Wege, s. o. 1(67)) gegen Hofmann. Solches Wissenkönnen beruht auf antagonistischer wechselseitiger Einleibung, vgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 39 f. Dabei sind in der Tat die Innen- und Außenperspektiven „untrennbar miteinander verschränkt" gemäß Rehbock ((10)), aber an der Subjektivität für jemand subjektiver Tatsachen ändert das nichts.
((84)) BLUME ((2)) hat meinen Text mißverstehend so gelesen, als hätte ich etwas gegen eine reduktionistische Abstraktionsbasis und wollte deshalb die moderne Naturwissenschaft abqualifizieren, dagegen s. o. ((73)). Ich wehre mich nur gegen Grenzüberschreitung vom methodischen Reduktionismus zum umfassenden kausalen Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes laut ((21))-((23)) meines Thesenpapiers. Daran aber hält die Majorität der Neurowissenschaftler immer noch fest, wie Blume unter ((3)) zugibt, und so lange gilt mein im Thesenpapier unter ((24)) und ((26)) begründetes Verdikt in der unter ((65)) gegen Hofmann präzisierten Fassung auch gegen den von Blume der Phänomenologie nahe gerückten Damasio. Ihre Aufstellung von Parallelen Damasio — Schmitz ist dankenswert, enthält aber kein neurowissenschaftliches Resultat; denn Beobachtungen am Selbstbewußtsein bei neurologischen Erkrankungen könnte man auch machen, wenn man nicht wüßte, daß sie neurologisch sind. Es ist immer erfreulich, wenn neurowissenschaftliche und phänomenologische Ergebnisse konvergieren; Gelegenheiten könnte es in der Gedächtnisforschung geben (vgl. von mir Begriffene Erfahrung S. 99-112), vielleicht auch bei Spiegelneuronen bezüglich leiblicher Kommunikation (Was ist Neue Phänomenologie? S. 34-43). Aber solche Analogien bleiben vage: teils werden sie übertönt durch die Hybris des neuropsychologischen Erklärungsanspruches, 5.0. ((69)) und ((72)), teils berühren sie nicht die Immunität der Phänomenologie, deren Ergebnisse mit jedem neurowissenschaftlichen Ergebnis vereinbar sind. Gar nicht kann ich mich dem Vorschlag zur Güte anschließen, mit dem Blume ihren Aufsatz schließt: die Phänomenologie solle die qualitative Charakteristik des Mentalen übernehmen und der Neurowissenschaft die kausale Erklärung überlassen. Dazu genügt das zu Hofmann und Staudacher Ausgeführte.
((85)) BÜRGER erhebt keine Einwände gegen mein Thesenpapier, sondern sucht nach möglichen Erträgen für die Medizin. Seine „zentrale Frage" lautet: „Inwieweit kann die Phänomenologie zu einer fundierten Vermittlung zwischen den mit Methoden der Naturwissenschaft beschreibbaren Konstellationen und der phänomenalen Wirklichkeit so beitragen, daß sie als wissenschaftlich fundiertes Werkzeug für die Medizin wirken kann?" Für die Antwort kommt es auf das Verhältnis von Situationen und Konstellationen an. Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, werden durch menschliche Intelligenz auf der Grundlage satzförmiger Rede aus Situationen geschöpft und, indem sie im ärztlichen Handeln auf Patienten angewendet werden, in neu sich bildende Situationen zurückgeführt. An beiden Stellen, beim Schöpfen und beim Zurückführen, könnte die konstellationistisch-naturwissenschaftliche Medizin von der Neuen Phänomenologie profitieren.
((86)) Was das Schöpfen angeht, wird die Unterscheidung analytischer und hermeneutischer Intelligenz wichtig. Analytische Intelligenz, mit dem Muster der Problemlösung, expliziert prosaisch, indem aus der ganzheitlich- binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Sachverhalte als Tatsachen oder (bei praktischen Problemen) einzelne Programme als geltende herausgeholt und vemetzt werden, der ganze Rest der Situation aber als etwas, worauf es nicht ankommt, weggeworfen wird. Hermeneutische Intelligenz expliziert poetisch, wie der Dichter mit einer geschickten Sparsamkeit des Redens, die ein nicht zu dichtes Netz von Explikatcn knüpft, so daß die ganzheitlich- binnendiffuse Bedeutsamkeit unversehrt hindurchscheinen und berücksich. tigt werden kann. Durch die Figur des Dichters soll man sich nicht zu dem Vorurteil verführen lassen, so etwas sei nicht realistisch. Ganz im Gegenteil ist hermeneutische Intelligenz unentbehrlich für den geschickten Menschenbehandler, sei er nun Demagoge oder z. B. tüchtiger Arzt und Psychotherapeut. Alles Wollen ist in der Hauptsache hermeneutische Intelligenz des Menschen beim Sichzurechtfinden in der eigenen persönlichen Situation, mit dem Ergebnis des Wissens, was man will. Die Induktion des klugen Arztes in Gestalt seiner persönlichen ärztlichen Erfahrung ist hermeneutische Intelligenz. Neuerdings sucht man ihr durch die zahlenmäßig und an Exaktheit überlegene statistische Induktion den Rang abzulaufen, etwa durch randomisierte Doppelblindstudien über die Wirkung von Therapeutika. Ohne den Wert einer solchen Statistik anzuzweifeln, habe ich auf eine Grenze hingewiesen, die der Ausgleich individueller Besonderheiten durch zufällige Mischung (Randomisierung) an den Situationen findet: Die Anatomie und Physiologie aller Menschenkörper ist so ähnlich, daß man hoffen kann, den Unterschied durch zufällige Mischung in einer hinreichend großen Stichprobe auszugleichen; dagegen sind die Situationen, die in der zuständlichen persönlichen Situation ((38)) eines Menschen stecken und in denen sie steckt, schon von Mensch zu Mensch und erst recht von Population zu Population so verschieden, daß die Ermittlung eines Durchschnitts durch Statistik nur bei viel Mut aussichtsreich scheinen kann, und doch hängt davon viel für die therapeutische Wirkung ab. Ärztliche Erfahrung als Fähigkeit zum Erfassen und Speichern impressiver (auch zuständlichcr) Situationen (vielsagender Eindrücke) wird daher zur Ergänzung statistischen Wissens unentbehrlich sein. Das wichtigste Hilfsmittel ihrer Schulung ist die Einübung typisierenden Denkens, vgl. System der Philosophie Band IV S. 247-258: Typen als Schlüssel zu Eindrücken. Hierzu paßt die Frage Burgers in ((7)), ob nicht doch die von mir abgelehnte Rückkehr zum archaischen Eindrucksdenken für die Medizin ergiebig sein könnte. Für die großen, universell konzipierten Systeme der archaischen, z. B. chinesischen und indischen Medizin möchte ich das eher bezweifeln, weil die Auswahl weniger Standard- Typen ein zu starres Ganzes ergibt; im engeren Rahmen kann dagegen die systematische Abstraktion von vielsagenden Eindrücken praktischen Nutzen bringen, wofür ich als mögliches Beispiel meine Reaktivierung der Kretschmer'schen Typenlehre zur Charakteristik von Bindungsformen des vitalen Antriebs in der persönlichen leiblichen Disposition (System der Phi-losophie Band IV S. 331-343; Der Spielraum der Gegenwart S. 112 f.) anführe, übrigens nicht nur für die Beurteilung von Patienten, sondem auch für die spezifische Qualifikation von Ärzten und Pflegern: Wer ist der rechte Mann/die rechte Frau am rechten Platz?
((87)) Vom Schöpfen ärztlicher Klugheit aus Situationen komme ich zur Zurückführung der geschöpften Konstellationen bei der Anwendung natur wissenschaftlichen Wissens auf den Patienten. Grundlegend ist dafür die Einsicht, daß Kontakte unter Menschen immer leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung in gemeinsamen Situationen sind, und dann, wenn der andere (die anderen) gegenüber ist (sind), vom Typ der antagonistischen Einleibung (im Medium der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere). Wichtigstes Werkzeug der Passung, nach der sich Burger in ((10)) erkundigt, ist dabei die Schwingungsfähigkeit der leiblich-personalen Fassung. (Näheres zu diesem Thema: Was ist Neue Phänomenologie7 S.
((89)) Speziellere Beiträge der Neuen Phänomenologie zur somatischen Medizin betreffen u. a. den Schmerz (Was ist Neue Phänomenologie? S. 222-226), Spannung und Entspannung als therapeutische Techniken im Zusammenhang mit Leibinselbildung (System der Philosophie Band II Teil 1 S. 151-169, 274-281), Parästhesien bei Diabetes und orthopädische Probleme im Zusammenhang mit abgespaltenen Leibesinseln. Ich habe einmal die Hypothese aufgestellt, daß es bei Schleudertraumen weniger um die Heilung körperlicher Schäden geht, als um die Reintegration einer durch privative Engung des Leibes abgespaltenen Leibesinsel in das motorische Körperschema. Die Orthopädie könnte für die Neue Phänomenologie fruchtbar werden (Rückenprobleme). Noch mehr Zugänge dürfte diese aber zu Verständnis und Behandlung psychischer Krankheiten haben. Was ich über Depression und Schizophrenie sagen kann, steht in System der Philosophie Band IV 5. 322-331 bzw. 415-473 und wird, soweit letztem betroffen ist, in dem Buch Schizophrenie - eine philosophische Krankheit? der Nervenärztin A. Moldzio (Würzburg 2004) der therapeutischen Praxis zugefühn über psychotherapeutisch behandelbare Störungen in phänomenologische; Perspektive findet man Entsprechendes in dem Buch von mir, Gabriele Marx und Andrea Moldzio Begriffene Erfahrung. Beiträge zur ct, ntireduk. zionistischen Phänomenologie (Rostock 2002) sowie in meinem Buch Leib und Gefühl (mit dem von mir nicht zu verantwortenden Untertitel: Materialien zu einer philosophischen Therapcutik), hg. v. H. Gausebeck und G. Risch, 2. Auflage Paderborn 1992.
((90)) Manchen Kritikern ist an meinem Thesenpapier ein „messianischer Zug" von „Heilserwartungen an die Philosophie", der mir mit Husserl gemeinsam sei und „zu einer Art von Religions- oder Meditationsersatz aufzusteigen" scheine, aufgefallen, so Wiegerling ((6)), Pieper ((2)), Leiber ((12)). Der Polemiker Lembeck macht daraus „kulturtherapeutische Scharlatanerie" ((5)) und „ominöse Heilsversprechungen" ((7)). Diesen Fehdehandschuh will ich zum Schluß aufgreifen.
((91)) Die Philosophie mag nicht mehr zur Führung der Wissenschaften taugen (außer als magistra modestiae), aber sie ist berufen, Führerin des menschlichen Lebens zu sein, weil Menschen durch ihr Sichbesinnen auf ihr Sichfinden in ihrer Umgebung exemplarisch für das Selbst- und Weltverständnis anderer Menschen werden können; das ist ihr maßgeblicher Ertrag für die Kultur. Die westliche Zivilisation hat sich verrannt in die Sackgasse steriler Betriebsamkeit und die Sklaverei des Gezogenwerdens durch undurchsichtigen technischen Fortschritt ohne überlegene Besonnenheit des Umgangs mit ihm. Die Menschen haben meist keine großen Zwecke mehr, für die es sich lohnt, wie Antigone das eigene Leben aufzuwenden; Menschen sind aber wichtig als Medien, an denen ein Schicksal sich abzeichnet, in das sie mit Tun und Leiden sich verstricken, nicht dadurch, daß sie sich selber (Kant: ,,als ZWeck") wichtig nehmen. Was zu tun wäre, um aus dieser agitierten Lähmung herauszukommen, habe ich, soweit es politisch ist, in meinem Buch Adolf Hitler in der Geschichte ausgeführt. Die Aufgabe ist aber nicht nur politisch. Sie führt darauf, den Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern, so daß die Bereitschaft, zu leben, nicht mehr der Hoffnung auf etwas, das noch kommen soll, bedarf. Allerdings ist die Gegenwart kein stabiler Ankerplatz, sondern ein Spielraum zwischen der primitiven Gegenwart des plötzlichen Betroffenseins und ihrer Entfaltung in die Dimensionen wacher personaler Orientierung zur Welt als dem Feld der freien Einzelheit. In der Tiefe dieses Spielraums haben sich die Menschen noch nicht zurechtgefunden, da sie wie die Griechen „in the grip of the past" (Titel eines Buches von B.A. van Groningen, Leiden 1953) oder wie Juden und Christen aus der Zukunft über die Gegenwart hinweggelebt haben. Mir geht es darum, sie mit der Tiefe dieses Spielraums vertraut zu machen, damit sie lernen, gegenwärtiger zu leben.
((92)) Aber ist es nicht phantastisch zu glauben, die Menschen würden sich heute noch auf den Weg ihres Lebens von den Philosophen führen lassen? Selbstverständlich. Wenn ich je etwas anderes geglaubt hätte, würde mich die Erfahrung eines langen Lebens belehrt haben. Wie sollte ich, der an vier bis fünf Fronten gleichzeitig mit dem Zeitgeist um Ehrlichkeit kämpft, darauf hoffen können, die kompakte Majorität meiner Zeitgenossen zu bekehren? Wenn einige die Binde liebgewordener Vorurteile um die Augen ablegen, andere wenigstens daran rücken, habe ich genug Grund zur Freude. Ich werbe nicht. Aber ich bemühe mich, Vorsorge zu schaffen für den Fall, daß eine Besinnungspause eintritt, die den Epigonalisrnus und flachen progressiven Rationalismus unterbricht, sei es durch spontanes Stutzen, sei es durch den Bedarf gewandelter Sensibilität auf Grund einer Umstimmung der kollektiv dominanten leiblichen Disposition. Für diesen Fall will ich eine Sprache vorbereiten, die den Menschen helfen soll, sich besser in ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung zurechtzufinden.