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(Zitat aus: Pfister 2007, Raum-Gestaltung-Marketing, 86ff)

1.3.3 Topisch-henadische Raumauffassung

In der europäischen und amerikanischen Philosophiegeschichte ist im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts das Interesse und Verständnis für asiatische, zumal japanische Raumphilosophie, gewachsen, worüber in einer eigenen Studie bereits ausführlich berichtet wurde.118 Kann es Zufall sein, dass dies zur gleichen Zeit geschieht, zu der die quantenphysikalischen Erkenntnisse immer mehr an Tiefe und Einfluss gewinnen? Dieser Frage nachzugehen ist eines der Hauptmotive gewesen, die vorliegende Studie zu verfassen.

In dem Zusammenhang sind die ausführlichen Analysen und interkulturellen Vergleiche von Latka aufschlussreich. Er unterscheidet drei Sozialsystemmodelle: das „operative", das „retiv, polyzentrische" und das „retiv, topische"119. Im Blick auf operative Systemmodelle betont er, dass diese auf der Basis einer zeitlichen Grundkonstruktion beruhen. „Luhmanns eigentliche Leistung besteht demnach darin, von der Substanz auf Zeit als zentrale Grösse zu wechseln. Nicht mehr die simultan agierenden Individuen sind als Substanzen Gegenstand der Soziologie, sondern das zeitliche Nacheinander der kommunikativen Operationen."120 Doch welche Rolle spielt hier der Raum? Ist er eher Zwischen-Raum, Beziehungs- Raum oder Lebens-Raum? Für die Sozialsystem-Modellierung erschien er offenbar lange Zeit wenig attraktiv und, wie oben erwähnt, konnte Luhmann mit ihm wenig anfangen.

Andere Wege der Raum-Wahrnehmung sind im retiv-topischen Systemtyp erkennbar, der philosophisch betrachtet nicht vom Raum, sondern vom Ort (japanisch „basho") ausgeht. Im Blick auf die Systemmodellierung schreibt Latka dazu: „In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen einem polyzentrischen und topischen Netzverständnis soll hier zwischen einem relationalen und einem topischen Raumverständnis unterschieden werden."121 Der relationalen Raumvorstellung ordnet er als bildhaftes Modell das Netz zu und bezeichnet demgemäss diesen Systemtyp als „retiv, polyzentrisch".122

Die in der vorliegenden Studie präsentierte Weiterentwicklung des Raumverständnisses hin zu einer vierten Raumvorstellung soll auf der Grundlage der Ausführungen und der Begriffsbildung von Latka, „topisch-henadische Raumauffassung" genannt werden.123 Dadurch wird der Aspekt der Ganzheitlichkeit noch stärker herausgestrichen. Sie wird nicht nur in der durchdringenden Verbindung von Körper, Seele und Geist in den Eigenräumen gesehen, sondern auch im Sinne der Nachhaltigen Entwicklung gedacht. Das heisst, sie wird auch in der durchdringenden Verbindung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen in den sogenannten Themenräumen betrachtet. Weiters berücksichtigt sie die Äquivalenz von Information, Energie und Masse/Materie. Dadurch wird das in der japanischen Raumphilosophie entwickelte „topische Raumverständnis" durch abendländische Erkenntnisse erweitert, weshalb es zur begrifflichen Unterscheidung „topisch-henadisch" genannt werden soll.

Bei diesem Raumverständnis sind Raum und Körper/Masse/Materie nicht, wie im absoluten Raum, dualistisch zu verstehen und auch nicht lediglich als relationale Anordnung von Körpern, mit Löw von Menschen/Lebewesen und sozialen Gütern124 im Raum. Das retivtopische Modell verweist vielmehr mit Latka „auf einem sozial erlebbaren Raum, welcher als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. <...> Die Feld-Metapher des Raumes soll verdeutlichen, dass die Raumpunkte selbst vom Raum durchdrungen werden können, d.h. das Verbindende zugleich das Durchdringende ist."125

Die nächste Abbildung zeigt nun die Veränderung vom relationalen Raumverständnis (links im Bild) zum topisch-henadischen, bei dem Menschen, Lebewesen und soziale Güter als Teil eines Feldes betrachtet werden - als das „Feld, in dem man sich befindet".126 In dieser auf der japanischen Lehre des Ortes127 basierenden Feldvorstellung verlaufen die Beziehungen zwischen den Knotenpunkten („Ich", „Du" etc.) nicht ketten- oder netzartig direkt (siehe links im Bild), sondern über den Ort, in dem man sich gemeinsam trifft. Japanische Philosophen und Sozialpsychologen verstehen das „Im Ort sein" eines Einzelnen als „Durchlässig-Sein für den Ort" und alles in ihm Befindlichen und lehnen somit die Vorstellung von einem Gegenüberstehen von Einzelnem und Ort ab.128


Abbildung 17: Polyzentrisches Netz (links) und topisches Netz als Feld (rechts), nach Latka, 2003, S. 227 und 245

Die folgende Abbildung zeigt nun im Überblick die skizzierten vier Raumverständnisse gleichnishaft gedacht in „künstlerischen" Darstellungen: Oben der absolute Raum mit seinen festen Grenzen, dicht gefüllt und in der christlichen Vorstellung von Gott als Schöpfer geschaffen und von seinem Geist und Segen durchdrungen; im Gegenuhrzeigersinn daneben der relative Raum, der zwar im Einzelnen noch feste Grenzen kennt, aber sich ins Unendliche „verliert" und wo zwischen den einzelnen Räumen eine Leere und damit die Denk-Möglichkeit des leeren Raumes entsteht; dann folgt der relationale Raum, bei dem eine Verortung des Einzelnen nur in Relation zu anderen Lebewesen und sozialen Gütern erfolgen kann, wodurch die Vernetzung von Knotenpunkten das Einzelne als Gegenüber des Vielen und der Welt, Umwelt erfahren wird; und schliesslich rechts aussen die feldhaft vernetzte, topisch-henadische Raumvorstellung, bei der das Einzelne sozusagen aus dem Ganzen hinauswächst (grosse Steine), sich expliziert, im Feld befindet und über das Feld (im Bild als gestalteter Kieselstein-Grund gezeigt) mit anderen Einzelnen und dem Ganzen verbunden ist. 129 Das Feld wird dabei erkennbar als Atmosphäre, welche den Ort auszeichnet und das im Ort Befindliche durchdringt. Hier sind die Dinge nicht direkt miteinander verbunden wie beim Atomium, sondern über ein gemeinsames räumliches Feld in Beziehung zueinander gestellt. Jedes Element hat selber ein Feld (kreisförmige „Umrahmung" der grossen Steine), wie auch die Gesamtheit eines hat. Wie Latka betont, geht es also nicht um ein Vereinahmen des Einzelnen durch das Ganze (Kollektivismus).130 Das Einzelne kann vielmehr in der Gesamtheit seine Einzigartigkeit bewahren.


Abbildung 18: Künstlerische Metaphern für die vier zentralen abendländischen Raumvorstellungen

Diese vier zentralen abendländischen Vorstellungen von Raum sind zum Teil nacheinander entstanden, aber bis heute nebeneinander wirksam. So wirkt die absolute behälterartige Raumauffassung im Bereich des Arealraums (Zimmer in Wohnung) nach, die relationale in der Strukturierung des Wissensraums etc. Wie die Quantenphysik die klassische Physik ja nicht ersetzt, sondern nur in ihrem Geltungsbereich begrenzt, so können auch hier für Teilräume verschiedene Auffassungen nebeneinander wirksam sein. Wichtig dabei ist aber, sich bewusst zu bleiben, dass diese Vorstellungen einen begrenzten Geltungsbereich haben und dass man das ausserhalb Liegende damit nicht erfassen kann, was aber nicht heissen darf, es zu ignorieren.

Die nächste Abbildung soll zeigen, worin sich die vier Raumauffassungen zentral unterscheiden, und zwar bezogen auf die drei Äquivalenzbereiche der Quantentheorie: Information (Achse links im Bild), Energie (Achse nach hinten) und Masse/Materie (Achse nach rechts). Dabei kann man erkennen, dass die behältermässige Vorstellung, in der die absolute Raumvorstellung den Kosmos sieht (links vorne), in der relativen Raumauffassung auf Teilräume übertragen worden ist (durch Pfeile zwischen den Raumauffassungen dargestellt). Diese Behältervorstellung lebt in der klassischen Netz- Knoten-Vorstellung im Alltagsverständnis bis heute weiter, obwohl man sich durch die mikroskopischen Erkenntnisse über die Spaltbarkeit der Atome und die Welle-Teilchen-Vorstellung davon schon seit längerem verabschieden musste.

Neuere Überlegungen zum relationalen Raumverständnis131 erkennen das feldhafte immer mehr. Verbindet man nun die skizzierten japanischen Vorstellungen von Ort, Raum und Durchdringung mit Kernelementen der Nachhaltigen Entwicklung und vor allem der Quantentheorie, so kommt es sozusagen zu einem „Quantensprung" in der Raumauffassung (oben im Bild). Reduzierte sich der Energiebegriff immer mehr (Achse nach hinten), so wird er nun wieder umfassend und ganzheitlich, den Lebensraum durchdringend gesehen, wie die Information. Diesbezüglich entsteht eine gewisse Nähe zu Vorstellungen des absoluten Raumes. So zeigt auch die Abbildung, wie die Theorie dazu, dass die vierte Raumauffassung (oben im Bild) nicht einen Bruch vollzieht, sondern als Weiterentwicklung der Bisherigen zu verstehen ist.


Abbildung 19: Entwicklungslinien zwischen zentralen abendländischen Raumauffassungen

Welche Konsequenzen haben nun diese raumphilosophischen Überlegungen für die Wirtschaft und die Praxis der Unternehmen - vor allem auch im Blick auf das Realisieren von mehr Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit? Darauf soll in der Folge eingegangen werden und zwar insbesondere in Bezug auf Organisation, Prozesse und betriebliche Funktionen.

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