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Latka, Thomas (2003): Topisches Sozialsystem. München.

Seite: 269-273

3.2.2. Relationales und topisches Raumverständnis

Doch neben zeitlichen Modellen des Sozialen lassen sich auch räumliche Modelle finden, und zwar solche, die eben gerade nicht den Raumals „Behälter-Raum" (miss)verstehen. C.F. von Weizäcker bezeichnet ein derartig fortschrittliches Raumverständniss in Abhebung von dem absolutistischen Behälterraum als relativistisch. Zur absolutistischen Tradition des philosophischen Raumverständnisses zählt er solche Namen wie Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton u.a., zur relativistischen Cusanus, Bellarmin, Leibniz, Mach u.a.[768]

„Diese unterscheiden sich vor allem in der Einschätzung des Verhältnisses von Materie und Raum. Während Absolutisten einen Dualismus annehmen, d.h. es existieren ihnen zufolge Raum und Körper, sind relativistische Traditionen der Auffassung, daß Raum sich aus der Struktur der relativen Lagen der Körper ergibt."[769]

Ein absolutistisches Raumverständnis geht also davon aus, dass der Raum nur eine Randbedingung des Inhaltes ist, wohingegen ein relativistisches Verständnis davon ausgeht, dass der Raumerst mit dem Inhalt entsteht. Ein absolutistisches Raumverständnis führt nahezu unweigerlich zur Ausklammerung von räumlichen Kategorien aus der Soziologie, denn der Raum, verstanden als leerer Behälter, ist für eine soziologische Betrachtung, die sich mit dem genuin Sozialen beschäftigen möchte, wenig interessant. Erst ein relativistisches Raumverständnis bereitet den Grund, bei sozialem Geschehen nach der Ausbildung von räumlichen Qualitäten zu fragen. Erst wenn man sich vorstellen kann, dass - wie in der Physik seit Einstein bekannt - Materie und Raum nur zugleich entstehen können, wird man danach fragen, welche räumlichen Qualitäten im sozialen Geschehen entstehen.

Gemeinsam ist fast allen relativistisch-räumlichen Modellen des Sozialen die Fokussierung auf den Körper als Leib, denn er allein wird mit seiner physischen Ausdehnung als Garant dafür angesehen, dass räumliche Erfahrungen überhaupt möglich sind. Unterscheiden kann man relativistisch-räumlichen Modelle danach, welche Art von räumlichen Erfahrungen im sozialen Prozess zustande kommen. In Anlehnung an die Unterscheidung zwischen einem polyzentrischen und topischen Netzverständnis, soll hier zwischen einem relationalen und einem topischen Raumverständnis unterschieden werden.

3.2.2.1. Relationales Raumverständnis: Der Raum als relationale Ordnung
Relativistische Raumverständnisse sind in der westlichen Philosophie stets relational gewesen, d.h. der Raumwird in Abhebung von dem absolutistischen Behälterraum-Modell als Relationsordnung beschrieben. So geschehen bei Leibniz, der sich von Newtons absoluten Raummodell absetzte, indem er den Raum als relationale Ordnung begreift. Leibniz versteht den Raumals „Inbegriff aller erfahrbaren relationalen Lagebeziehungen des gleichzeitigen Nebeneinanders möglicher materieller Stellen"[770], und bildet damit die Basis für ein modernes Verständnis des Raumes als netzartiges Relationsgefüge. In diesem Verständnis entsteht der Raumerst durch die Ausbildung und stetige Aktualisierung eines Relationsnetzes. Diesem Raumverständnis entspricht das Modell eines retiven, polyzentrischen Systems, wie es in dieser Arbeit vorgeschlagen wurde. Polyzentrisch deshalb, da das verbindende Element der netzartigen Struktur die vielen verschiedenen Zentren sind, und Relationen auf direktem Wege zwischen den verschiedenen Knoten stattfinden. Soziologisch haben diese relationalen Raummodelle vor allem in der netzwerkanalytischen Schule Verbreitung gefunden, in der soziales Geschehen als Ausbildung netzartiger Strukturen verstanden wird. Daher wurde die Bestimmung retiver Sozialsysteme auch eng an die Modelle dieser sozialen Netzwerkforschung angelehnt.

3.2.2.2. Topisches Raumverständnis: Der Raum als feldhafte Ordnung
Neben einem relationalen Raumverständnis, wie es für die westliche Moderne kennzeichnend ist, soll auch ein weiteres Raumverständnis mit Blick nach Japan aufgezeigt werden, das im Folgenden als topisches Raumverständnis bezeichnet und als Feld ausgelegt wird.

Wie weiter oben dargestellt, beruht ein topischen Sozialsystem-Modell auf einem sozial erlebbaren Raum, welcher als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. Im Unterschied zum rein relationalen Raumverständnis wird der Raum nicht primär als ein Relationsgefüge verstanden, sondern vor allem als ein durch die Raumpunkte aufgespanntes Feld. Versucht man die Verbindung der Raumpunkte dennoch über Relationen abzubilden, dann erhält man „topische Relationen", die im Unterschied zur direkten gerade Verbindung zweier Raumpunkte „über das Feld laufen" und daher als zwei sich schneidende Geraden visualisiert werden können.

Die Feld-Metapher des Raumes soll verdeutlichen, dass die Raumpunkte selbst vom Raumdurchdrungen werden können, d.h. das Verbindende zugleich das Durchdringende ist. Deshalb liegt auch die Schwingungs- und Resonanz-Metapher nahe, denn die Vorstellung, dass Schwingungen Raumpunkte durchdringen, welche damit in Resonanz geraten, ist physikalisch greifbar.

Ein derart topisches Raumverständnis liegt nahe, wenn man die mit dem Begriff „topisches Sozialsystem" beschriebenen Phänomene der japanischen Sozio-Kultur philosophisch reflektiert. Doch umso erstaunlicher ist es, wenn sich auch in der westlichen Tradition Stimmen finden lassen, die ein ähnliches Raumverständnis erkennen lassen.

Gosztonyi fasst nach seiner über tausendseitigen philosophischen Untersuchung über den Raumseine Position gerade in Absetzung zu zahlreichen klassischen Positionen wie folgt zusammen: „Raum ist ‚reine Konduktivität'."[771] „Er ist - auch methodisch - von der ‚Schwingung' nicht ‚abtrennbar', das heißt aber, er ist ‚Schwingung'."[772] Mit der Schwingungsmetapher versucht auch er deutlich zu machen, dass der Raum zugleich den Menschen durchdringen kann: „... der Raum... wirkt nämlich in ihm - und nicht etwa ‚um' ihn - und zwar als Spannung, der der Mensch ununterbrochen ausgesetzt ist."[773] Fernab jeden Japanbezuges knüpft Gosztonyi gerade in diesem Ausgesetzt-Sein für das Durchdringende an einen explizit topischen Gedanken an, wie er sich z.B. bei Watsuji finden lässt, der topische Elemente als „draußen Seiende"[774], „Hinausgetretene"[775], „Hinausgestellte"[776] versteht, die vom Klima durchdrungen werden. Damit ist deutlich, dass das Raumerlebnis nicht ohne Risiko des Erleidens einer Spannung erfahren werden kann: „Das Raumerlebnis ist ein Getragensein und ein Erfahren - oder genauer: ein Erleiden - einer Spannung ..."[777] Mit dieser Nähe von Gosztonyi zu Watsuji soll nur ein Beispiel genannt sein, wie sehr ein topisches Raumverständnis aus beiderseitigem Bemühen heraus entwickelt werden kann.

Sucht man in der westlichen Soziologie nach Anschlussmöglichkeiten für ein topisches Raumverständnis, dann darf neben dem bereits genannten Kurt Lewin und seinem Schüler Junius Brown sicher auch Pierre Bourdieu nicht fehlen, der mit der Berufung auf den Feldbegriff eine radikale Wendung in der Sozialwissenschaft fordert:

„Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkehrung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich an sichtbaren Dingen festmacht ... In der Tat: Wie die Newtonsche Gravitationstheorie nur im Bruch mit dem Cartesianischen Realismus, der keinen anderen Modus physischer Aktionen als den Stoß, den direkten Kontakt, anerkannte, zu entwickeln war, so setzt auch der Feld-Begriff einen Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung reduziert."[778]

Gerade weil sich für Bourdieu das Feld nicht auf die darin sich vollziehenden Interaktionen reduzieren lässt, fordert er, das Feldals eigene Wirkungsgröße zu beachten und in den „Mittelpunkt der Forschungsoperationen"[779] zu stellen. Mit dieser Forderung reiht sich Bourdieu ein in das soziologische Bemühen um die Weiterentwicklung eines topischen Raumverständnisses.

Mit den Beispielen von Gosztonyi und Bourdieu sollte nur auszugsweise angedeutet werden, dass es auch in der westlichen Philosophieund Soziologie - wenn auch aus unterschiedlichsten Motiven - Annäherungen an ein topisches Raumverständnis gibt, und somit das Bemühen um ein topisches Raum- und Systemverständnis nicht ausschließlich nur Japaninteressierten vorbehalten bleiben muss. So lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es auch in der westlichen Welt vielversprechende Ansätze gab und gibt, welche die Grenzen der bisherigen Raummodelle erkannt haben und nach neuen Wegen in Richtung eines topischen Raumverständnisses suchen. Vor diesem Hintergrund könnte auch die Diskussion um ein topisches Systemmodell eine integrative Wirkung haben und bestehende Kräfte bündeln.

Doch bei aller Vereinnahmung westlicher Ansätze sollte man sich im Klaren sein, dass die genannten westlichen Quellen zum topischen Raumverständnis doch eher eine Ausnahme als die Regel darstellen. So ist in den vorherrschenden westlichen Modellen trotz allem Bemühen um ein angemessenes Raumverständnis die Dominanz zeitlicher Kategorien immer noch unverkennbar. Bei eher schematisierender Wahrnehmung kann man daher bisweilen zurecht den Eindruck erhalten, dass der westlichen Fokussierung auf die Zeit die japanische Raumorientierung gegenübersteht:

„If Westerners express the world in the form of time, the Japanese tendency toward space is the antithesis of these European concepts. Schematically speaking, it is a way of plotting perception along the axis of 'being and space' instead of 'being and time'."[780]

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[768] Vgl.: Weizsäcker 1985, 256; Löw 2001, 17.

[769] Löw 2001, 17.

[770] Stekeler-Weithofer 1992, 100.

[771] Gosztonyi 1976, 1255.

[772] Gosztonyi 1976, 1255.

[773] Gosztonyi 1976, 1017.

[774] Watsuji 1992, 8.

[775] Watsuji 1992, 8.

[776] Watsuji 1992, 16.

[777] Gosztonyi 1976, 1024.

[778] Bourdieu 1985, 71.

[779] Bourdieu in: Bourdieu/Wacquant 1996, 139.

[780] Kawakatsu 1999.