Autor: Thomas Latka (März 2007)

Abstract:

Die Systemtheorie hat es schwer mit räumlichen Begriffen wie Raum, Feld oder Ort. Zumindest dann, wenn man unter Systemtheorie die Luhmannsche Theorie sozialer Systeme versteht. Dort werden räumliche Begriffe und Kategorien bewusst ausgeklammert. Der „spatial turn" in den Gesellschaftswissenschaften ging daher auch bislang an der Systemtheorie spurlos vorbei. Dieser Aufsatz soll zeigen, dass es ein alternatives Systemverständnis durchaus geben kann, und die „Wende zum Raum" auch in der Systemtheorie möglich ist.

Systemmodelle

Grundlegend kann man zwei verschiedenen Systemmodelle unterscheiden: operative und retive (Vgl. Latka 2003: 10ff). Operative Systemmodelle sind Modelle, die sich an dem Muster der Kette orientieren, und zwar an einer Kette von einander anschließenden typgleichen Operationen. Retive Systeme sind Modelle, die sich an dem Muster des Netzes (lat. rete) orientieren, und zwar eines Netzes von Akteuren, die miteinander in Beziehung stehen.
Operative Systemmodelle haben Probleme, räumliche Eigenschaften hinreichend zu würdigen, da nur der Anschluss der Operationen an andere typgleichen Operationen eine Rolle spielt, aber nicht mit welcher räumlichen Ausrichtung dieser Anschluss passiert. Räumliche Eigenschaften spielten daher in operativen Systemmodellen keine Rolle.
Retive Systemmodelle orientieren sich an dem Muster eines Netzes, das schon selbst eine räumliche Gestalt ist. Es entspricht einem Netzwerk von Akteuren und ist leicht räumlich vorzustellen. Daher ist auch gut einzusehen, dass netzartige Modelle räumliche Eigenschaften hinreichend würdigen können. Wichtig ist nur, dass ein retives Systemmodell primär ein Netzmuster darstellt, das weder auf die Relationen noch auf die Akteure darin zurückgerechnet werden kann. In seiner Gestalthaftigkeit steht es einem operativen System in nichts nach.

Spatial Turn

Der „spatial turn" der Gesellschaftswissenschaften hat sich allmählich ereignet, und verlangt nach einem Ende der Raumblindheit in den Geisteswissenschaften. Zulange hat man sich von dem voran gegangenen „lingustic turn" beeindrucken lassen, und die Bedeutung von räumlichen Qualitäten hinter sprachlichen Sequenzen angestellt. Im Wesentlichen geht es im „spatial turn" um eine Kritik am absolutistischen Raumverständnis, das den Raum stets als „Behälter" versteht. Raum wäre demnach unabhängig von den Elementen darin. Doch schon Simmel distanziert sich von dem Gedanken, dass man sich einen Raum als etwas vorstellen kann, „in das die Dinge hineingestellt würden, wie Möbel in ein Zimmer." (Vgl. Glauser 2006: 253) Vollzieht man den „spatial turn" weg von einem absolutistischen hin zu einem relativistischem Raumverständnis, dann ist sozialer Raum etwas, dass erst durch soziale Akteure entsteht.

Spatial Turn in der Systemtheorie

Will man den „spatial turn" auch in der Systemtheorie vollziehen, dann besteht der erste Schritt in der Hinwendung zu retiven Systemmodellen, welche im Gegensatz zu operativen Modellen überhaupt räumliche Eigenschaften haben können. Als zweiter Schritt stellt sich die Frage, welche räumlichen Variationsmöglichkeiten in retiven Systemmodellen überhaupt denkbar sind. Denn wenn es nur eine Art der Räumlichkeit gibt, dann ist mit dem Schritt hin zu retiven Systemmodellen schon alles getan, und damit der „spatial turn" in der Systemtheorie bereits vollzogen. Und hier genau beginnt es interessant zu werden: Eine sich über das absolutistische Raumverständnis hinaus entwickelte relativistische Räumlichkeit kann auf zwei verschiedene Arten verstanden werden: entweder relational oder topisch.

Relationales Raumverständnis

Relativistische Raumverständnisse sind in der westlichen Philosophie stets relational gewesen, d.h. der Raum wird in Abhebung von dem absolutistischen Behälterraum-Modell als Relationsordnung beschrieben. So geschehen bei Leibniz, der sich von Newtons absoluten Raummodell absetzte, indem er den Raum als relationale Ordnung begreift. Leibniz versteht den Raum als „Inbegriff aller erfahrbaren relationalen Lagebeziehungen des gleichzeitigen Nebeneinanders möglicher materieller Stellen", und bildet damit die Basis für ein modernes Verständnis des Raumes als netzartiges Relationsgefüge. In diesem Verständnis entsteht der Raum erst durch die Ausbildung und stetige Aktualisierung eines Relationsnetzes. Diesem Raumverständnis entspricht das Modell eines retiven, polyzentrischen Systems, wie es an anderer Stelle vorgeschlagen wurde (Latka 2003: 227). Polyzentrisch deshalb, da das verbindende Element der netzartigen Struktur die vielen verschiedenen Zentren sind, und Relationen auf direktem Wege zwischen den verschiedenen Knoten stattfinden. Soziologisch haben diese relationalen Raummodelle vor allem in der netzwerkanalytischen Schule Verbreitung gefunden, in der soziales Geschehen als Ausbildung netzartiger Strukturen verstanden wird.

Topisches Raumverständnis


Neben einem relationalen Raumverständnis, wie es für die westliche Moderne kennzeichnend ist, soll auch ein weiteres Raumverständnis aufgezeigt werden, das im Folgenden als topisches Raumverständnis bezeichnet und als Feld ausgelegt wird.
Ein topisches Raumverständnis beruht auf einem sozial erlebbaren Raum, welcher als soziales Feld bzw. Atmosphäre erfahrbar wird. Im Unterschied zum rein relationalen Raumverständnis wird der Raum nicht primär als ein Relationsgefüge verstanden, sondern vor allem als ein durch die Raumpunkte aufgespanntes Feld. Versucht man die Verbindung der Raumpunkte dennoch über Relationen abzubilden, dann erhält man „topische Relationen", die im Unterschied zur direkten gerade Verbindung zweier Raumpunkte „über das Feld laufen" und daher als zwei sich schneidende Geraden visualisiert werden können.
Die Feld-Metapher des Raumes soll verdeutlichen, dass die Raumpunkte selbst vom Raum durchdrungen werden können, d.h. das Verbindende zugleich das Durchdringende ist. Deshalb liegt auch die Schwingungs- und Resonanz-Metapher nahe, denn die Vorstellung, dass Schwingungen Raumpunkte durchdringen, welche damit in Resonanz geraten, ist physikalisch greifbar.
Ein derart topisches Raumverständnis ist insbesondere in Japan entwickelt worden, wo die Philosophie des Felds bzw. Ortes eine viel längere Tradition hatte wie bei uns. Doch umso erstaunlicher ist es, wenn sich auch in der westlichen Tradition Stimmen finden lassen, die ein ähnliches Raumverständnis erkennen lassen. Gosztonyi fasst nach seiner über tausendseitigen philosophischen Untersuchung über den Raum seine Position gerade in Absetzung zu zahlreichen klassischen Positionen wie folgt zusammen: „Raum ist ‚reine Konduktivität'." „Er ist - auch methodisch - von der ‚Schwingung' nicht ‚abtrennbar', das heißt aber, er ist ‚Schwingung'." (Gosztonyi 1976: 1255) Mit der Schwingungsmetapher versucht auch er deutlich zu machen, dass der Raum zugleich den Menschen durchdringen kann: „... der Raum ... wirkt nämlich in ihm - und nicht etwa ‚um' ihn - und zwar als Spannung, der der Mensch ununterbrochen ausgesetzt ist." (Gosztonyi 1976: 1017)
Sucht man in der westlichen Soziologie nach Anschlussmöglichkeiten für ein topisches Raumverständnis, dann darf neben Kurt Lewin und seinem Schüler Junius Brown sicher auch Pierre Bourdieu nicht fehlen, der mit der Berufung auf den Feldbegriff eine radikale Wendung in der Sozialwissenschaft fordert: „Das Denken in Feldbegriffen erfordert eine Umkehrung der gesamten Alltagssicht von sozialer Welt, die sich ausschließlich an sichtbaren Dingen festmacht ... In der Tat: Wie die Newtonsche Gravitationstheorie nur im Bruch mit dem Cartesianischen Realismus, der keinen anderen Modus physischer Aktionen als den Stoß, den direkten Kontakt, anerkannte, zu entwickeln war, so setzt auch der Feld-Begriff einen Bruch mit der realistischen Vorstellung voraus, die den Effekt des Milieus auf den der direkten, in einer Interaktion sich vollziehenden Handlung reduziert." (Bourdieu 1985: 71)
Gerade weil sich für Bourdieu das Feld nicht auf die darin sich vollziehenden Interaktionen reduzieren lässt, fordert er, das Feld als eigene Wirkungsgröße zu beachten und in den „Mittelpunkt der Forschungsoperationen" zu stellen. Mit dieser Forderung reiht sich Bourdieu ein in das soziologische Bemühen um die Weiterentwicklung eines topischen Raumverständnisses. Mit den Beispielen von Gosztonyi und Bourdieu sollte nur auszugsweise angedeutet werden, dass es auch in der westlichen Philosophie und Soziologie - wenn auch aus unterschiedlichsten Motiven - Annäherungen an ein topisches Raumverständnis gibt, das sich vom relationalen Raumverständnis deutlich unterscheidet.

Topological Turn in der Systemtheorie

Ein Systemmodell, dass auf einem topischen Raumverständnis beruht, kann als topisches System verstanden werden. Es unterscheidet sich deutlich von Systemmodellen, die auf einem relativistischen Raumverständnis fußen, und in denen die kürzeste Verbindung zwischen den Knoten die effizienteste ist. Topische Systeme brauchen den Raum zwischen den Knoten als Verbindungsfeld. Topische Systeme kann man sich daher auch als Felder vorstellen, die sich durch die Relationen wie bei einem Regenschirm aufspannen. Eine Systemtheorie, die ausgehend vom retiven Modell diese Wende zur topischen Bestimmung vollzieht, hat den „topological turn" geschafft. Insofern verursacht der „topological turn" in der Systemtheorie eine Annäherung von Sytem- und Feldtheorie, mit ihr je eigenen Logiken. Wie diese Begegnung ausgeht, muss hier noch offen gelassen werden. Aber die Notwendigkeit einer solchen Begegnung ist schon mit dem „spatial turn" in den Gesellschaftswissenschaften eingeleitet.

Literatur

Bourdieu, Pierre (1985): Sozialer Raum und „Klassen". Frankfurt a.M.

Brown, Junius F. (1936): Psychology and the social order: an introduction to the dynamic study of social fields. New York; London.

Glauser, Andrea (2006): Pionierarbeit mit paradoxen Folgen? Zur neueren Rezeption der Raumsoziologie von Georg Simmel. In: Zeitschrift für Soziologie, 4 / 2006, S. 250-268.

Gosztonyi, Alexander (1976): Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften. I+II. Freiburg; München.

Latka, Thomas (2003): Topisches Sozialsystem. Die Einführung der japanischen Lehre vom Ort in die Systemtheorie und deren Konsequenzen für eine Theorie sozialer Systeme. Heidelberg: Carl-Auer.

Lewin, Kurt (1963): Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Bern; Stuttgart.