Hermann Schmitz: Replik Phänomenolgie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung

((1)) Ich gliedere meine Erwiderung in drei Abteilungen: 1. Methodenfragen, 2. Phänomenologen, 3. Naturwissenschaft. In der zweiten und dritten Abteilung strebe ich eine Ordnung nach abnehmender Aggressivität der Kritiken an. Ich habe alle Kritiken gründlich ausgearbeitet, doch zwingt mich die Enge des verfügbaren Druckraumes zu harten Kürzungen. Ausführlich bleibe ich, wenn scharfe Kritiken auf groben Mißverständnissen beruhen und wenn interessante Einwände mir Gelegenheit zu ergänzender Klärung und Stärkung der Position meines Thesenpapiers geben, ferner bei den Phänomenologen, die sich von Husserl her über meine Neue Phänomenologie äußern, und bei dem Mediziner, der etwas über deren praktische Brauchbarkeit für sein Fach zu erfahren wünscht. Eine kurze prinzipielle Einleitung der ersten Abteilung ist zum Ver-ständnis des Folgenden unerläßlich.

((2)) Den gedanklichen Hintergrund meines Thesenpapiers bildet mein endlich—mit von mir nicht zu vertretender Verzögerung — erschienenes Buch Was ist Neue Phänomenologie? (Rostock, Ingo Koch Verlag, 2003), das ich, im Vertrauen auf mir zugesagtes früheres Erscheinen, schon in den Anmerkungen des Thesenpapiers erwähnt hatte. Es gibt zusammen mit den Büchern Der Spielraum der Gegenwart und Adolf Hitler in der Geschichte (beide Bonn 1999), auf die ich mich im Folgenden gleichfalls berufe, den gegenwärtigen Stand meiner Überlegungen wieder.

1. Methodenfragen

((3)) Die Wissenschaften forschen nach objektiven Tatsachen in einzelnen Gegenstandsgebieten; die Philosophie dagegen, als Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung, forscht nach objektiven Tatsachen um subjektiver Probleme willen auf Grund von Fragen der Art: Was soll ich davon halten? Wie soll ich mich dazu stellen? Was kann ich mir zutrauen? Es ist klar, daß solche Fragen wegen der Unsicherheit des Sichfindens nie ganz auf Fragen der Wissenschaft zurückgeführt werden können. Die Philosophie kann nicht davon abhängen, Wissenschaft zu sein, weil nicht alle Rechenschaft des Menschen von seinem Sichfinden in seiner Umgebung die Systematik wissenschaftlichen Raisonnements verträgt. Sie ist bei der Wissenschaft gleichsam zu Gast mit einer Aufgabe, die fundamentaler ist als die der Wissenschaft, aber sie darf die Gastrolle nicht dazu mißbrauchen, den Dilettanten zu spielen.

((4)) Der Phänomenologe leistet die philosophische Besinnung durch Rechenschaft von dem, was er jeweils gelten lassen muß. Die Naturwissenschaften zeigen ihm viel davon. Ihre dürftige und durch geschickte Aussparungen prognostisch extrem erfolgversprechende Abstraktionsbasis verzerrt aber die Proportionen philosophischer Rechenschaft, wenn sie nicht in eine umfassende phänomenologische Besinnung eingebettet wird. Dafür ein Beispiel: Gehirnforscher leugnen neuerdings eifrig die zu sittlicher Verantwortung gehörige Freiheit, weil alle Entschlüsse determiniert seien. Sie verwechseln sittliche Freiheit mit Willensfreiheit und diese mit Entschlußfreiheit. Die Möglichkeit sittlicher Verantwortung kann nur auf der Grundlage einer Theorie der subjektiven Tatsachen nachgewiesen werden, vgl. von mir: System der Philosophie Band BI Teil 3 S. 463-605; Der unerschöpfliche Gegenstand S. 362-381; Der Spielraum der Gegenwart S. 136-156 und 229-233; Was ist Neue Phänomenologie? S. 6671. Das Beispiel soll zeigen, welche groben und leider gar folgenreichen Verzerrungen des Selbstverständnisses drohen, wenn dieses sich ohne genaue Phänomenologie auf Naturwissenschaft verläßt.

((5)) Methodische Vorgaben für die phänomenologische Revision, die den harten Kern des jeweils Unbestreitbaren aus der weichen Schale der für das Umdenken verfügbaren Annahmen herauszuschälen trachtet, würden die Revision an sachliche Voraussetzungen binden, die fragwürdig wären und den Horizont verengten. Solche Vorgaben müssen daher im Interesse phänomenologischer Strenge schwach sein. Die Vagheit der Methode ist unentbehrlich für die Radikalität philosophischer Selbstprüfung. Ich habe ein abgrundtiefes Mißtrauen gegen alles, was Menschen sich zurechtmachen. Quintessenz der phänomenologischen Methode ist das Absteigen von allen hohen Rössern, auf denen jemand sitzen kann, um zu prüfen, wie gut der Boden hält, auf dem die Rösser stehen, und wie gut die Rösser halten, auf denen die Reiter sitzen, und um den Boden genauer zu prüfen, als es vom hohen Roß aus möglich ist. Dieser B oden ist die unwillkürliche Lebenserfahrung. Unwillkürliche Lebenserfahrung ist alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben.

((6)) An diese Darlegung schließt sich nahtlos an, was WOLFF unter ((8)) gegen meine Subsumtion der Phänomenologie unter wissenschaftliche Philosophie einwendet, Statt über das schöne Wort „Wissenschaft" zu streiten, ist es besser, erst einmal zu bestimmen, was an klärender Prüfung einerseits experimentelle Wissenschaft, andererseits Phänomenologie vollbringen kann. Das Experiment dient der prognostischen Bewährung naturwissenschaftlicher Theorien an einer aus der unwillkürlichen Lebenserfahrung abgezogenen schmalen Datenbasis primärer Sinnesqualitäten, z.B. Zeigerstellungen an Meßapparaten. Die geschickte Ausnützung dieser Befunde durch Deutung der Apparate als Signalgeber nach physikalischen Theorien erlaubt dann eine zweite, für das große Publikum weit interessantere Stufe prognostischer Bewährung. Die von Wolff als wissenschaftlich ausgezeichnete intersubjektive Objektivität beruht aber auf der prognostischen Bewährung erster Stufe, der Prüfung von Theorien im Experiment. Damit ist es schon vorbei, wenn zu den Daten, wie in psychologischen Experimenten, auch sprachliche Äußerungen gehören, deren Sinn sich nicht so genau messen läßt wie die Zeigerstellung. In den empirischen Wirtschaftswissenschaften überspringt die Prüfung sogar die experimenteile Stufe und greift gleich ins volle Leben der Konjunkturzyklen. Mit der Auszeichnung empirischer Wissenschaften durch experimentell garantierte Intersubjektivität sollte man also vorsichtig umgehen.

((7)) Was wird nun aber mit Hilfe der Experimente in exakten Naturwissenschaften prognostisch bewährt? Nicht die Theorie selbst; sondem eine aus ihr abgeleitete Vorhersage über Vorkommnisse in der Lebens- und Alltagswelt, z. B. Zeigerstellungen. In der Theorie kommt so etwas gar nicht vor, sondern da ist die Rede von Dingen, von denen niemand eine Ahnung hätte, wenn es die Naturwissenschaft nicht gäbe. Dieser ganze Apparat von Konstrukten ist so etwas wie eine durch Indizien eingekreiste Verschwörerbande oder Heinzelmännehenschar, deren Mitglieder noch nie jemand gesehen oder auf andere Weise erwischt hat. Welchen erkenntnistheoretisch berechtigten Status darf man dieser Gesellschaft zugestehen? Dazu gebe ich meine salomonische Antwort in ((25)). Gesichert ist nur, was sich über vorhersagbare Veränderungen in der Alltagswelt aus den Theorien ableiten läßt. Das ist zwar wichtig, aber für Menschen zu wenig, um sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Die dazu erforderliche Besinnung benötigt eine breitere Abstraktionsbasis; uni die bemüht sich die phänomenologische Revision, indem sie systematisch herauszuschälen sucht, was der sich I3esinnende jeweils als Tatsache gelten lassen muß, weil er sich selbst nicht glauben könnte, wenn er das bestritte. Der Preis für die Vergewisserung ist der Verlust garantierter intersubjektiver Transportierbarkeit. Zu weit geht aber der Verdacht von Wolff in ((II)), dieser Verlust führe zwangsläufig „zur Schulbildung wie im Christentum". Der Unterschied besteht darin, daß die christlichen Dogmatiker gehäuft metaphysischen, ja phantastischen Vorgaben folgen, während die Phänomenologen auf die Frage, was sie als Tatsache gelten lassen müssen, als Prüfstein ausgerichtet sind. Ihr „strenger Ernst" (Wolff) ist daher ein intellektueller, nicht nur ein moralischer oder dogmatischer. Trotz aller Meinungsverschiedenheit ist nicht anzunehmen, daß die unwillkürlichen Lebenserfahrungen der meisten Menschen radikal abweichen; sonst käme man schneller an solche Grenzen des Verstehens wie z. B. vor Verrückten.

((8)) Ich habe einmal geschrieben: „Gefühle sind das Wichtigste im Leben, weil nur durch sie den Menschen irgend etwas wichtig ist." Man könnte einwenden, wichtiger sei doch, was die Naturwissenschaften bieten, weil es dabei um Leben und Sterben, Wohlstand und Not geht. Aber ohne Gefühle wären Leben und Sterben nicht mehr wichtig, und von Wohlstand und Not könnte man ohne affektives Betroffensein von Gefühlen und leiblichen Regungen nicht sprechen. Soll das Wichtigste im Leben von der Sorgfalt begreifender Besinnung nur so tangential berührt werden, wie es durch die echte Naturwissenschaft (Gehirnphysiologie) oder die nachgemachte (psychologische Experimente) möglich ist? Vielmehr bedarf es der Phänomenologie, die in der Tat, wie Wolff ((10)) mit Worten von Holzkamp schreibt, berufen ist, eine „Möglichkeit der Klärung und Vereindeutigung der Redeweise über Erlebnisse zu schaffen", aber nicht nur, wie er fortfahrt, um „eine Verständigung über das jeweils Gemeinte herbeiführen zu können", sondem auch im Interesse systematischer Vergewisserung, die zugleich vieles bisher Übersehene in der unwillkürlichen Lebenserfahrung aufdecken kann. Daraus schöpft die angewandte Phänomenologie, die die in phänomenologischer Revision aufgedeckten Befunde fruchtbar machen kann und schon in der Medizin (besonders Psychiatrie), im Kulturvergleich (Sinologie), in Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Pädagogik, Phonetik usw. nützliche Spuren hinterlassen hat.

((9)) Mit den Bedenken von Wolff berühren sich die von MOHR, die auf den Ton gekränkter Altersweisheit eines ausgezeichneten Naturforschers gestimmt sind. Sie führen nicht weiter, und ich bedauere, wegen der Knappheit des Druckraumes nicht mit meiner schon ausgearbeiteten Stellungnahme auf sie eingehen zu können; zur Relativitätstheorie s. u. die Auseinandersetzungen mit Kanitscheider und Schröter.

((10)) Gegen mein methodologisches Postulat des Rückgangs der Begriffsbildung auf „Erfahrungen, die durchschnittlich (wenn auch mit Ausnahmen) jedermann jederzeit frisch oder in der Erinnerung zugänglich sind" ((44)) richtet JANICH die Frage: „Woher will H. S. wissen, was jedermann jederzeit frisch oder in der Erinnerung zugänglich ist?" Meine Antwort gemäß ((5)) oben lautet: Es handelt sich um eine unverbindliche Absichtserklärung. Wenn die philosophische Selbstprüfung radikal sein soll, darf sie sich nicht gleich anfangs mit starken Ansprüchen an ein Wissen belasten. Der Phänomenologe, wie ich ihn will, hält sich für die Basis seiner Begriffsbildung an Erfahrungen, von denen er glaubt, daß sie nicht erlesenes Sondergut sind, damit er selbst jederzeit (nicht nur in hohen Momenten) und andere einigermaßen verläßlich verstehen können, wovon die Rede ist. Es handelt sich um ein regulatives Postulat, das seinen Dienst getan hat, wenn es wolkige Esoterik verhindert und der eigenen Perspektive die Aussicht auf Gemeinsamkeit im Abgleich mit anderen Perspektiven vorhält. Die Unterstellung eines homogenen common sonne aller Menschen liegt mir fern.

((11)) Für die folgende Diskussion mit Janich ist es nützlich, den Unterschied zwischen seiner und meiner philosophischen Methode zu verdeutlichen. Zu diesem Zweck führe ich zwei Passagen aus einem Brief von mir an ihn vom 24. 11. 2001 an. Über die Anwendung des „Prinzips der methodischen Ordnung" habe ich geschrieben: „Wir gehen dabei nur etwas anders von Sie progressiv, orientiert am Leitbild eines Handelns, das Schritt für Schritt vormacht, was dann in Worte gefaßt wird; ich regressiv, indem ich zunächst in normalsprachlich umschreibender Rede auf etwas hinweise, woran sich im Großen und Ganzen jeder aus eigener Erfahrung erinnern können sollte, und die darin analytisch ermittelten Züge mit terminologischer Standardisierung zu Definitionen nütze, immer bedacht darauf, daß dank klarer Kombination der Merkmale bis auf den relativ trivialen Anfang hin durchsichtig bleibt, wovon die Rede ist." „Demgemäß ist für mich nicht die Aufforderung zu vormachenden (demonstrativ exemplarischen) Handlungen, sondem die Erinnerungen vergegenwärtigende satzförmige Rede das Werkzeug philosophischer Bahnung."

((12)) Aus diesem Unterschied der Methode läßt sich weitgehend die Kritik erklären, die Janich an meinen Ausführungen zur Naturwissenschaft übt, soweit er diese nicht (wie bezüglich der Physik der Zeit) billigt. Ich habe unter ((20)) keineswegs leugnen wollen, was er mir unter ((6)) entgegenhält: daß die Funktion der physikalischen Apparate „niemals erschöpfend durch die empirischen Gesetze der Physik beschrieben werden" könne. Außerdem gehört dazu nämlich das Vertrauen, daß bei der an den einschlägigen Theorien orientierten Anwendung die gemäß jenen Gesetzen erwartbaren Resultate nicht durch Störfaktoren (übersehene Gesetze oder Umstände, gesetzlose Zufälle) verändert werden. Wenn man daran durch Überraschungen irre wird, muß man wie im täglichen Leben prüfen, Erinnerungen wecken, Wahrscheinlichkeiten abschätzen usw. Aus dem empirischen Vortasten kommt man dabei nicht heraus, auch nicht durch die selbstverständliche Feststellung von Janich, daß Störungen nur durch Verfehlen menschlicher Zwecke definiert sind.

((13)) Wichtiger ist der Einwand von Janich in ((7)), ich hätte die Verwendung dynamischer Größen (also von Kräften) in der mechanischen Physik übersehen. Vielmehr habe ich unter ((16)) die Kraft als primären Gegenstand der Physik ausgezeichnet und mein Bedenken nur daran geknüpft, daß sie so wenig wie z. B. die Wärme auf eine Abstraktionsbasis paßt, die nur intermomentan und intersubjektiv bequem identifizierbare, meßbare und selektiv variierbare Merkmalsorten zuläßt. Bei der Wärme hilft man sich Mt dem Thermometer, aber wo ist der Ersatz im Fall der Kraft? Janich gründet in seinem Buch Das Maß der Dinge 5. 279 f. die Einführung des Massebegriffs auf die Erfahrung, an einem Seil zu ziehen. Ziehen ist nur im eigenleiblichen Spüren einschließlich leiblicher Kommunikation erfahrbar. Wenn man bereit ist, solche Erfahrungen in die Datenbasis der Physik aufzuneho - renn, entfällt mein Vorbehalt unter ((16)). Die Frage ist nur, ob die Physik nach solcher Erweiterung ihrer Abstraktionsbasis sich noch mit gleichem Stolz auf die von Janich unter (00)) eingeforderte „Transsubjektivität willkürlicher Erfahrung" berufen kann.

((14)) Janich wirft mir Vernachlässigung dieser Transsubjektivität, ja sogar „der individuellen Genese unseres Handlungs- und Sprachvermögens in der Gemeinschaft" und „des historischen Standes der menschlichen Bezugsgemeinschaft, in die das Individuum hineingeboren und hineinsozialisiert wird" vor ((12)). Was dies betrifft, könnte ich ihm rasch entsprechende Stellen meiner Schriften zeigen. Aber sein Einspruch ist grundsätzlicher gemeint. Er beruht auf dem Postulat, philosophische Begriffe auf reduzierbare Schemata willkürlich ausgeführter Handlungen und die dabei gemachten typischen Erfahrungen zu stützen. Er steht damit in der Tradition des VICOPrinzips, das Kant einmal schlagend so formuliert: „Wir begreifen nur, was wir selber machen können." (Akademieausgabe Band XVI S. 345 Z. 17) Auf dieser Grundlage gelingt Janich eine einsichtsvolle Erschütterung der dogmatischen Ideologie des naturwissenschaftlichen Weltbildes, aber sie ist mit starken Verkürzungen seiner Perspektive erkauft. Ich verweise auf die Thematik von Raum und Zeit, In Logisch-pragmatische PmpildeutIk S. 151 unterstützt Janich die These: „Die räumlichen Wörter betreffen die Lage, die Form und die Größe von Körpern und Hohlkörpern." Von allem anderen abgesehen, vermisse ich die Feststellung, daß der Raum, wie ihn der Handwerker und der Naturwissenschaftler für ihre Zwecke benötigen, nicht aus Körpern, sondern aus Orten (genauer: relativen Orten) besteht. Ich glaube, gezeigt zu haben, daß der nötige Ortsbegriff zirkelfrei nur auf der Grundlage unwillkürlicher leiblicher Erfahrungen (nicht nur willkürlicher Handlungen) eingeführt werden kann, vgl. Was ist Neue Phänonzendlogie? S. 61 f. und dort zu Raum und Zeit S. 54-62 und 76-89.

((15)) Während zwischen Janich und mir weniger ein Gegensatz in der Sache als ein Unterschied in der Methode besteht, der gegenseitige Ergänzung und sachliche Übereinstimmung nicht auszuschließen braucht, stehe ich vor der Kritik von HÖRZ wie vor der Mauer einer gegen Phänomenologie abgeschlossenen, vom Bekenntnis zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild getragenen Weltanschauung. Die „rationale Aneignung der Wirklichkeit" ist für ihn „Sache der Wissenschaft, dabei vor allem der Naturwissenschaft", neben der die Kunst und die Praxis eigene Aufgaben haben, während der Philosophie die „Bewertung" des gesellschaftlichen Wünschenswerten und human Vertretbaren überlassen bleibt, wobei sie als „weltanschauliche Lebenshilfe Humankriterien aus den Erkenntnissen zum Wesen des Menschen und aus historischen Auseinandersetzungen ableiten kann." ((4)) Fragt sich nur, wer die Erkenntnisse liefern soll? Doch wohl die Naturwissenschaft. Der Philosophie bleibt dann noch das Recht, in „historischen Auseinandersetzungen" ihre eigene Geschichte zu bebrüten.

((16)) Der Fehler dieser Denkweise zeigt sich an der von Hörz in ((3)) zustimmend aufgeführten Äußerung eines Astrophysikers; „Für Treder schließt die reine Subjektivität der Erfahrungen ihre Mitteilbarkeit aus. Jeder Versuch, sie zu objektivieren, entstellt und verfälscht sie!" Wenn das zuträfe, wäre Lyrik Betrug. Aber von anderer Art als das naturwissenschaftlich-reduktionistische ist das phänomenologische Objektivieren als rational durchsichtige, kritisch sichernde Besinnung auf die eigene, an fremden Zeugnissen sich messende Lebenserfahrung. Ohne diese Rationalität könnte sich die Selbstbesinnung nur noch in Essays, Einfällen und gelegentlichen Nachdenklichkeilsübungen ergehen. Das liefe auf eine partielle Vertierung der menschlichen Intelligenz hinaus, weit dann die Chance der Gebrechlichkeit d. menschlichen Selbstverständnisses, aus der Bcirrung des Sichfindens in der Umgebung die Distanz zu rational geführter Selbstbesinnung zu gewinnen, an den Konsum von ohne Bezug auf Selbstbesinnung gewonnenen Forschungsergebnissen preisgegeben werden müßte. Aus besonnenem Sichfinden würde geistige Fütterung. Mit ihren von Rationalität abgespaltenen Emotionen müßten die Menschen sich abfinden. Aber das Machtwort Tenders ist irrational.

((17)) Ich übergehe viele Einzelbemerkungen von Hörz, z. B. die wenig konsistenten über Kausalität unter ((6)) und ((7)), und weise nur noch darauf hin, daß er in der Wiedergabe meines Argumentes ((24)) gegen den umfassenden Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes unter ((7)) solche Entstellungen anbringt, daß keine Auseinandersetzung lohnt.

((18)) Angesichts des urbanen, unpolemischen Tones von JANSSEN tut es mir leid, daß ich den größten Teil meiner Auseinandersetzung der Knappheit des von meiner Replik be-druckbaren Papiers opfern muß, zumal unsere Überzeugungen sich teilweise decken; den ersten Satz seines Punktes ((4)) könnte ich selbst geschrieben haben. Keineswegs aber billige ich seine unter ((9)) erhobene Forderung, daß eine an „Tatsachen ausgerichtete (deskriptive) Wissenschaft sich aus aktuell vollziehenden geschichtlichen Formierungsprozessen herauszuhalten hat". Ich folge nicht Hegels Eule der Minerva, die erst in der Abenddämmerung fliegt. In Was ist Neue Phänomenologie? sind die Seiten 275-287 überschrieben: „Welchen Toleranzbegriff brauchen wir im 21. Jahrhundert?" Der Titel des 8. Kapitels meines Buches Adolf Hitler in der Geschichte lautet: „Perspektiven nach Hitler". Freilich kann der Philosoph den Menschen die Funde, die sie durch Glück und Gestaltungskraft erringen müssen, nicht durch Rezepte ersetzen, aber er kann den Horizont möglicher Besinnung auszuleuchten suchen, in dem sich die Menschen vor und bei ihren Entscheidungen Rechenschaft geben können, damit diese nicht gar zu flach ausfällt. Besinnung und Betroffenheit sind im heutigen Lebensstil auseinandergedriftet; die Folgen sind Herrschaft der Eruptionen und Launen, während das Denken in spezialisierte Eliten auswandert, die sich oft gegenseitig nicht mehr verstehen. Indem der Phänomenologe bemüht ist, diesen Spalt von der Besinnung her zu schließen, leistet er ebenso Lebenshilfe wie die in den von Janssen unter ((13)) vorgeschlagenen rein praktischen Formen.

((19)) Der Beitrag von SCHIEMANN besteht in der Darlegung einer mit der meinigen unvereinbaren Auffassung von der Aufgabe der Phänomenologie und damit zusammenhängenden Mißverständnissen meines Thesenpapiers. Das Themengebiet der Phänomenologie ist nach Schiemann „das Fühlen, Wahrnehmen und Denken des Subjektes in der ihm gegebenen Welt. Ein Weg, zu dieser Quelle zu gelangen, geht von der Lebenswelt aus (...)". ((2)) Die Erfahrung dieser Lebenswelt hat nach Schiemann zwei Richtungen: Erstens gilt „die wache Aufmerksamkeit des Bewußtseins dem praktischen Umgang mit vertrauten Dingen und Personen"; zweitens „richtet sich die Aufmerksamkeit einer Person in der subjektiven Erfahrung auf ihre eigenen Bewußtseinsereignisse und - zustände." ((6)) Eine „unwillkürliche Lebenserfahrung" will Schiemann gleichwohl nicht gelten lassen, denn diese Rede unterstelle „eine in allen Kulturen vorkommende grundlegende Erfahrungsform. (...) In der Moderne kann aber keine von Typisierungen freie Erfahrung nachgewiesen werden." ((5)) Dazu will ich nun Stellung nehmen.

((20)) Schiemann scheint sich die Welt als ein wohlgebautes Haus vorzustellen, in dem lauter einzelne Subjekte existieren, denen diese Welt als Objekt gegeben ist. Ein phänomenologisch ausgezeichneter Teil dieser Welt ist für Schiemann die Lebenswelt, in der sich jedes Subjekt mit einer Innenwelt eigener Bewußtseinszustände bekleidet, während ihm in äußerer Wahrnehmung die vertraute Außenwelt begeg,net. Mit einer solchen Lebenswelt hat, was ich „unwillkürliche Lebenserfahrung" nenne, herzlich wenig zu tun. Jene ist vielmehr das Konstrukt der psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung von Demokrit/Platon bis zu Husserl. Was ich „unwillkürliche Lebenserfahrung" nenne, habe ich oben unter ((5)) definiert, Die Annahme einer in allen Kulturen vorkommenden Erfahrungsform wird dadurch nicht impliziert, obwohl ich sie für sehr wahrscheinlich halte. Eine kulturspezifische Typisierung steht dieser Annahme nicht im Wege, sofern sie das Gemeinsame nur modifiziert, nicht beseitigt. Allerdings widerspricht meine unwillkürliche Lebenserfahrung dem Weltbild von Schiemann, nämlich der Voraussetzung einer den ohne Weiteres einzelnen Subjekten gegebenen Welt, mit allerhand hinzunehmenden Einrichtungen, unter denen eine Bin den Phänomenologen besonders interessante die Lebenswelt sei. Meine unwillkürliche Lebenserfahrung steigt bis zur primitiven Gegenwart ab und schöpft daraus Identität. Subjektivität und Wirklichkeit, erst auf höherer Stufe aber Einzelheit und damit die Welt als das Feld der freien Einzelheit, versehen mit einzelnen Subjekten und räumlich-zeitlichen Strukturen wie dem Ortsraum und der modalen Lagezeit. Diese Welt ist wie ein brüchiger Film auf einer flüssigen Oberfläche; das zeigt sich besonders in den Aporien des Flusses der modalen Lagezeit, vgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 76-89. In diesem Sinn habe ich geschrieben, „daß die Welt auf der Spitze des Plötzlichen steht" (Der Spielraum der Gegenwart S. 166).

((21)) Auf einem Mißverständnis beruhen Schiemanns Einwendungen zur Subjektivität. Er vermengt sie mit deren Behandlung durch Philosophen von Shoemaker und Rorty ((7)). Diese Behandlung ist erkenntnistheoretisch, meine Theorie der subjektiven Tatsachen dagegen ontologisch, allerdings von mir dazu beraten, jene zu ersetzen. Das Neue an meiner Theorie besteht darin, daß es nicht nur viele verschiedene Tatsachen gibt, sondem auch viele verschiedene Tatsächlichkeiten, unter denen die Tatsächlichkeit der objektiven oder neutralen Tatsachen die blasseste ist, ein verdünnter, die Wirklichkeit in eine gleichsam bloß noch erzählte Welt transformierender Rest von Tatsächlichkeit, berufen, alle anderen Tatsächlichkeiten auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Nur auf objektive Tatsachen beziehen sich alle Erklärungen der Naturwissenschaft Daran scheitert die von Schiemann unter ((3)), ((10)) und ((1 I)) eifrig verteidigte Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erklärung der Subjektivität.

((22)) Die Widerlegung des umfassenden Erklärungsanspruches des naturwissenschaftlichen Weltbildes durch das in meinem Thesenpapier unter ((24)) mitgeteilte Argument gibt Schiemann unter ((9)) unrichtig wieder. Ich stütze mich keineswegs auf die Behauptung, daß die Naturwissenschaft den Bereich aller satzförmig registrierbaren Beobachtungen von Menschen nicht überschreite; vielmehr betone ich, daß sie das durch von ihr erdachte Parameter wirklich tut. Mein Einwand beruht vielmehr darauf, daß sie die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen lediglich der Bewährung ihrer Prognosen in diesem Bereich verdankt. Die Frage der Korrektheit meiner Argumente in ((24)) und ((26)) wird durch die Bedenken von Schiemann nicht berührt. (Statistische Erklärungen erheben ebenso kausale Ansprüche wie solche mit Angabe einzelner Ursachen; .,Koexistenzbedingungen" soll die Naturwissenschaft erforschen, soviel sie kann, das ist ihr rechtmäßiges Metier.)

((23)) LOCKER identifiziert zu Unrecht den Sachverhaltsbegriff des Phänomens laut meinem Thesenpapier ((41)) ((51)) mit Goethes verschwommenem Phänomenbegriff, den er unter ((6)) anführt, und hält mir deswegen Goethe als phänomenologisches Vorbild vor. Zu Goethes Phänomenologie habe ich in dem 15. Aufsatz meines Buches Höhlengänge Stellung genommen: Goethe, verführt durch den ihm von Schiller nahe gebrachten Kant, hat fruchtbare Ansätze einer Situationsontologie zu Gunsten einer glatten Unterscheidung von Subjekt und Objekt mit dem Versuch als Vermittler zwischen ihnen unterdrückt, indem er für den Versuch denselben Anspruch auf intersubjektive Objektivität erhob wie die Physik: „Die Elemente dieser Erfahrungen der höheren Art, welches viele einzelne Versuche sind, können alsdann von jedem untersucht und geprüft werden, und es ist nicht schwer zu beurteilen, ob die vielen einzelnen Teile durch einen allgemeinen Satz ausgesprochen werden können; denn hier findet keine Willkür statt." (Goethe, Der Versuch als Vermittler von Subjekt und Objekt) Da er aber die Abstraktionsbasis seiner Begriffsbildung nicht so rigoros wie die Physik auf bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbare, meßbare und selektiv variierbare Merkmalsorten einschränkte, hatte er sich mit solchem Anspruch auf ein Feld begeben, wo er den exakten Maßstäben Newtons nicht gewachsen war. Jedoch sind ihm glänzend der Phänomenologie vorleuchtende Forschungsmaximen gelungen; eine solche steht als Motto meines Hauptwerkes über der Vorrede zu Band I.

((24)) Zu den übrigen Anregungen und Kritiken Lockers kann ich kaum Stellung nehmen, da er einen Phänomenbegriff verwendet, den er weder verdeutlicht noch zu dem meinigen ((41)) in Beziehung setzt. Einen Widerspruch scheint er in ((7)) zwischen dem Bedürfnis „theorieförmiger Annäherung" an die Phänomene und der Unmöglichkeit, sie direkt abzulesen, konstatieren zu wollen, doch liegt kein Widerspruch vor, sondem die von mir stets betonte und in ((51)) hervorgehobene Tatsache, daß die Phänomenologie in der Lebenswelt nicht glatt landen, sondem ((38)) die unwillkürliche Lebenserfahrung nur als kritische Instanz nützen kann.

((25)) Einer Stellungnahme bedürfen dagegen Locken Anstalten, die Auseinandersetzung ins Persönliche hinüberzuspielen. In meinem Werk sind nach seiner Meinung berechtigte Anliegen, sachliche Irrtümer und „wohl echte Verrücktheiten" nicht zu trennen ((2)); von solchen Verrücktheiten gibt er kein Beispiel. In Adolf Hitler in der Geschichte trägt Schmitz nach Locker ((3)) alles zusammen, „was sich an Negativem, ja Fürchterlichem über Christentum und Kirche sagen läßt, womit er offenbar sein Leben belastende, vielleicht tmumatisch verursachte Komplexe zugibt und durch die offen zutage tretende Emotionalität seiner Beweisführung jede Stichhaltigkeit nimmt." Das Buch enthält aber keine Ausfälle gegen das Christentum und von Negativem nur den Bruchteil, der für die Gedankenführung unerläßlich ist, daneben viel Erfreuliches über die johanneisch inspirierte Ostkirche. Ich muß auf die Entgleisungen Lockers hinweisen, um der Gefahr zu begegnen, daß jemand, der mein Werk nicht mag, weil es sich mit gewohnten und beliebten Denkweisen nicht verträgt, sich die Mühe leicht macht, indem er mich zum verrückten Neurotiker stempelt.

((26)) Solches Leichtmachen unterläuft Locker bezüglich Platons. Er unterstellt mir Unsinn, den ich nie behauptet habe („daß Platon die demokritische Konzeption der Idee übernommen habe"), um gleich zu fotgem, daß der „von Demokrit eingeleitete Paradigmenwechsel von Platon nicht fortgeführt wurde" ((4)). Ich rate zur Lektüre meiner Bücher Platon und Aristoteles. (Die Ideenlehre des Aristoteles Band ?) und Der Ursprung des Gegenstandes. Von Parmenides bis Demokrit. Übringens enthält Was ist Neue Phänomenologie? einen Abschnitt „Platon als Demoluiteer" (S.348-363).

((27)) An dem Beitrag von WESTMEYER habe ich nichts auszusetzen, zumal auch er nichts gegen mich einwendet, sondem mit elegantem Schwung die Neue Phänomenologie in den Armen des sozialen Konstruktivismus auffängt. Die zugehörige Skepsis würde ich allerdings nicht wie er ontologisch so ausdrücken wollen: „Etwas ist nicht wirklich, sondern etwasgilt als wirklich." Ich würde lieber sagen: Die Tatsächlichkeit objektiver (und vieler subjektiver) Sachverhalte kann nicht endgültig (für immer und alle), sondern nur provisorisch (durch „Evidenz im Augenblick", Buchtitel von Manfred Sommer) gesichert werden. Dem sozialen Konstruktivismus entspricht in meiner Terminologie der erkenntnistheoretische Explikationismus, darüber zuletzt: Der Spielraum der Gegenwart S. 167-174. Gemäß dem erkenntnistheoretischen Explikationismus besteht Erkenntnis nicht in richtiger Beschreibung von Sachen, sondern in der Explikation von Tatsachen aus der Bedeutsamkeit von Situationen. Diese Gebundenheit des Erkennens an einen kontingenten Hof der Bedeutsamkeit schließt übrigens die relativistische Gestalt der Skepsis vielmehr aus statt ein, weil es für die Wahrheit einer Behauptung lediglich auf die Entscheidung zwischen kontradiktorischen Annahmen ankommt, die immer demselben „Hof' entnommen sind, so daß dessen Unterschied gegen andere solche Höfe für die Wahrheit nicht ins Gewicht fällt Allerdings ist das immer eine Wahrheit in beschränkter Perspektive, nicht in der allumfassenden eines imaginären Alleskenners. Diese Beschränktheit läßt sich potentiell ad infinitum (wenn auch nicht vollständig) ausgleichen durch die Anpassungsund Erweiterungsfähigkeit solcher Höfe der Bedeutsamkeit. Meine von Westmeyer unter ((3)) angeführte soziale Relativierung der Halluzinationen, wofür die Auditionen des Propheten Mohammed ein gutes Beispiel sein könnten, ist eine Anwendung des erkenntnistheoretischen Explikationismus.((28)) MRAS beginnt ihre Kritik mit einer sehr verständnisvollen Einführung; was sie unter ((2)) schreibt, ist eine korrekte Interpretation meiner Bemühungen. Ihre folgende Kritik ist mir nicht durchsichtig geworden, zumal sie mir mit eigenwilligen Umformulierungen Absichten (z. B. in ((5)): „die Ansicht entstehen zu lassen, daß wir immer mehr das verlieren, was unseren Überzeugungen Halt gibt") unterstellt, die mir fern liegen. Eine sehr umständliche Interpretation ihres Textes wäre mir nötig, um bloße Mißverständnisse von diskutierbaren Vorhaltungen zu trennen. Ich bitte, mir zu verzeihen, daß ich diese dann unvermeidlich breiten Ausführungen der Knappheit des Druckpapiers opfere. Ich begnüge mich hier mit zwei Hinweisen: 1. Man möge den kausalen Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf reduktionistischer Grundlage von dem methodischen Reduktionismus der Naturwissenschaft, den ich begrüße, immer scharf unterscheiden. 2. Daß sich Phänomene herausstellen, die unseren Überzeugungen Halt geben können, ist ein kontingentes (nicht von vorn herein mit Sicherheit zu erwartendes) Faktum, liefert aber keineswegs „einen Standpunkt zur Rechtfertigung dieser nicht revidierbaren Überzeugungen", den nach Mras ((II)) ,Hermann Schmitz (...) zu entwickeln scheint", denn prinzipiell nicht revidierbare Überzeugungen kenne ich nicht.

2. Phänomenologen

((29)) LEMBECK hält mit ausladender Rhetorik eine Mahn- und Strafpredigt an einen leeren Stuhl, auf dem ich nicht sitze. Er verteidigt gegen mich „die Idee der Naturwissenschaft" ((2)). Gegen die Idee habe ich nichts, nur gegen ihre Ideologisierung zum naturwissenschaftlichen Weltbild in dem von mir unter ((21)) angegebenen Sinn, von dem Lembeck keine Kenntnis nimmt. Die Naturwissenschaft an sich ist unschuldig; die „Schurken im Stück" sind die Philosophen einschließlich der Naturwissenschaftler, die sich leichtfertig auf das Eis der Philosophie begeben haben. Ihre Aufgabe wäre gewesen, die von den Errungenschaften der Naturwissenschaft geweckte Hybris durch umsichtige Selbstbesinnung abzufangen; statt dessen haben sie sich zu Vorreitern menschlicher Welt- und Selbstbemächtigung gemacht. Völlig verdreht werden meine Bedenken, wenn Lembeck mir in ((3)) vorwirft, Konstellationen zu denunzieren. Die möglichst weitgehende Rekonstruktion von Situationen durch Konstellationen ist nach meiner Überzeugung die legitime und unentbehrliche Grundform menschlicher Orientierung; ich selbst versuche nichts anderes. Wogegen ich mich wende, bitte ich unter ((43)) nachzulesen; es ist der Konstellationismus, der über den Konstellationen die Situationen vergißt oder verleugnet, und als seine verhängnisvolle Ausgeburt der Projektionismus. Die Einstellung, die zur naturwissenschaftlichen Arbeit gehört, wird von mir nicht angefochten; wenn allerdings Lembeck in ((5)) durch „philosophische Einsicht in die Korrelation von Einstellungsqualitäten und Weltkonzepten" das naturwissenschaftliche Weltbild im von mir angegebenen Sinn legitimieren will, macht er seine Phänomenologie zum Bütte] einer Hybris, die die von mir unter ((49)) skizzierten Verhängnisse heraufführt, Die Menschen mögen sich die Welt mit diesen oder jenen Konzepten zurechtlegen, aber das entbindet sie nicht von der Pflicht, gegenüber ihren Einstellungen ein kritisches Auge zu bewahren, und es ist Aufgabe der Philosophen, sie darauf hin-zuweisen.

((30)) Seltsam verwirrend sind in ((6)) Lembecks abfällige Darlegungen meiner phänomenologischen Methode. Er unterstellt mir eine „Strukturanalyse binnendiffuser Situationen", während ich in ((45)) betone, daß bei Situationen — anders als bei Konstellationen — die Strukturanalyse an eine Grenze kommt. Dann liest er aus ((45)) heraus, daß die Explikation von Bedeutungen mit unbeschränkter Allgemeinheit nicht zur Aufgabe phänomenologischer Strukturanalyse zähle, sondern erst im Zuge der Rechenschaftsablegung eines sich anschließenden Denkens relevant werde. Weder in ((45)) noch an anderer Stelle meines Thesenpapiers steht so etwas. Kurios finde ich, daß Lembeck mir eine Bilderbuchphänomenologie vorwirft, die nur schildern wolle, „was es alles so gibt" — mir, dem Verfasser eines über 5000 Seiten langen Werkes System der Philosophie, dessen ganze Leidenschaft der konvergenten Integration aller phänomenologischen Einzelanalysen gilt.

((31)) Ernst nehme ich einige Andeutungen unter ((5)) und ((6)), die man so verstehen kann, als wolle Lembeck Ansprüche Husserls gegen mich in Stel- lung bringen. Er verrnißt in meinem Thesenpapier „methodologische Reflexionen" über „Probleme phänomenologischen Erkenntnis- und Geltungsanspruchs", wobei ihm „der universale Anspruch von Antworten" vorschwebt. per Erkenntnisanspruch Husserls war apodiktisch universal, der meinige ist tentativ universal. Der Philosoph darf sich nicht aufs hohe Roß setzen, s. 5. ((5)); eher sollte er die wegwerfende Gebärde in der Frage riskieren, wen denn seine Antworten interessieren könnten, wenn er sie nur an seiner Selbstprüfung bewährt, ohne gleich einen universalen Anspruch apodiktisch zu erheben. Ich würde antworten: erst einmal ihn selbst, sogar dann noch, wenn er sich mit der Bitte um Kritik oder Bestätigung an seine Mitmenschen wendet, denn auch das dient zunächst seiner Selbstvergewisserung. Allgemein wichtig können seine Bemühungen trotz ihres tentativen Geltungsanspruches werden, wenn der Philosoph, gleichsam als Pionier der Selbstbesinnung, exemplarisch Wege zeigt, auf denen andere etwas entdecken können, das ihnen für ihr Welt- und Selbstverständnis bedeutsam wird.

((32)) Husserlianisch ist auch Lembecks Versuch in ((6)), die kategoriale Anschauung und Wesensschau dadurch zu rechtfertigen, „daß darin Emst gemacht wird mit dem Problem der Gegebenheit der Welt als einer — bei aller gestalthaften Varianz—doch stets identischen Welt". Über Identität habe ich mein ganzes Philosophenleben lang nachgedacht; jüngste Frucht ist der Aufsatz „Identität und Einzelheit" (Was ist Neue Phänomenologie73.2). Sie versteht sich nicht von selbst; es gibt unzählig vieles ohne Identität mit etwas. Die Welt, das Feld der freien Einzelheit ist freilich identisch, aber nicht mehr als eines von mehreren Gesichtern, das der Weltstoff — sit venia verbo! — annimmt, und alles andere als ein stabiler Rahmen, s. o. ((20)).

((33)) Im Schlußabschnitt ((7)) dehnt Lembeck seine Abwehr zur summarischen Verwerfung meiner Phänomenologie aus. Als neu erkennt er darin nur eine „Chuzpe" (Verschlagenheit) an, die sich zu ominösen Heilsversprechungen versteige. Mit grollender Rhetorik drückt er in vielen Wendungen seine Verachtung aus. Da ich mich nicht auf dieses Niveau begeben möchte, empfehle ich den Abschnitt allen Liebhabern billiger Polemik als Fundgrube.

((34)) Nachdenklicher bemüht sich BERMES um eine Husserl-Apologie. Er beginnt mit goldenen Worten über die immer neu anzufangende Phänomenologie, um meiner in besonderer Weise „Neuen" einen Seitenhieb zu versetzen. Dagegen setze ich ein drastisches Goethe-Wort aus den Maximen und Reflexionen: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande." Mich treibt die Sorge, daß die Phänomenologie gleich anfangs sich selbst blockiert hat, weil sie in den Schienen des psychologistisch-reduktionistischintrojektionistischen Paradigmas die unwillkürliche Lebenserfahrung ((5)) verpaßte, und daß diese Blockade anhält, solange der von Husserl gegebene Anstoß die Wurfbahn bestimmt. Noch in ((1)) setzt Bermcs aber zum Thema der unaufhörlich zu erneuernden Phänomenologie einen Kontrapunkt mit der Forderung nach einem „sicheren Fundament", damit man der Erneuerungsbereitschaft „Erfolg versprechen" könne; deswegen will er an Descartes als Patron festhalten. Die-ser Fundamentalismus starker Voraussetzungen ruiniert die phänomenologische Offenheit. Sicherheit kann der Phänomenologe nach meiner Überzeugung nur regressiv gewinnen, indem er seinen binnendiffusen Glauben durch Revision klärt und prüft, aber nicht progressiv, indem er von einem vermeintlichen fundamentum inconcussum aus vorwärts schreitet. Jede Vorgabe verengt den Blick.

((35)) In ((3)) streift Bernies die Philosophiegeschichte, um mich einiger Ungenauigkeiten zu überführen, erklärt diese aber für unerheblich, denn es gehe „nicht um Philosophiegeschichte, sondem um Schmitz selbst". Rührend, daß er sich so um mich sorgt! Aber ich nehme die Geschichte sehr wichtig, als ein Verhängnis, vor dem sich mit klarem Geist nur behaupten kann, wer mit redlicher Sorgfalt darauf eingeht, und werfe daher einen Blick auf die Einwände. Bennes wendet meinen Begriff der Abstraktionsbasis ((2)) nicht so an, wie er gemeint ist. Jede solche Basis läßt gegensätzliche Theorien, Bewertungen und erstrecht Methoden zu. Aristoteles und Berkeley stehen auf der Abstraktionsbasis des psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Paradigmas, Berkeley so konsequent, daß er nach perfekter Abschließungder privaten Innenwelten die reduzierte Außenwelt (und damit die Auszeichnung der primären Qualitäten) wegläßt, aber nicht so konsequent, auch alle anderen Innenwelten außer der seinigen abzuschaffen und Solipsist zu werden, Die mittelalterliche Philosophie ist extrem psychologistisch und hürojeknudstisch; bloß der Reduktionismus tritt mit dem Interesse an der (der Macht Gottes überlassenen) Außenwelt zurück.

((36)) Eine Ungenauigkeit wirft mir Bernres in ((4)) auch gegenüber Husserl vor, weil ich dessen „Prinzip aller Prinzipien" in ((5I)) nur mit zwei Zitatfetzen ohne die Worte „in den Schranken, in denen es sich gibt" anführe. Aber die Auslassung ist unschuldig: sie betrifft nicht meinen Einwand, daß alles Hinnehmen „im Licht eines kontingenten, von der jeweiligen Abstraktionsbasis vorgegebenen Verständnisses" steht. Husserl will nur jede Hinzufügung zu dem leibhaft sich Darbietenden ausschließen, genauer zu dem, „als was es sich gibt", wie er sagt. Damit unterstellt er eine eindeutige Gegebenheitsweise, die das reine Hinnehmen von selbst führt. Dagegen richtet sich mein Einwand. Die Schranken des Gegebenseins verbürgen keine Eindeutigkeit des Gegebenseins, die das Verständnis führen könnte.

((37)) Unter ((7)) kommt Bermes auf das für Husserl zentrale Thema der Intentionalität, die er so versteht: „Die Intentionalität ist nicht das Geschäft eines Cowboys, sie bezeichnet vielmehr einen Befund und eine Fähigkeit. DerBefund besteht in der strukturellen Vorgegebenheit von Sinnzusammenhängen, in die das Subjekt verstrickt ist; und die Fähigkeit besteht darin, diese Ordnungen zu reorganisieren und zu erhellen, indem sie zur Gegebenheit kommen." Goldene Worte, ganz in meinem Sinn (wenn ich so etwas auch nicht „Intentionalität" nennen würde), aber ist das noch Husserl? Er konzipiert Intentionalität als Eigenschaft von Akten, die reelle Bestandteile eines Bewußtseins sind, sogar eines Bewußtseinsstromes, der für jeden Bewußthaber („reines Ich") sein eigener ist, gesondert von jedem anderen. Ein solches Bewußtsein halte ich für eine Fiktion, einig mit William James, dem Erfinder der Metapher vom Bewußtseinstrom, der diesen später für das Produkt einer Verwechslung mit dem Atemstrom hielt (Does consciousness exist?, in: W, James, Essays in Radical Empiricistn, London 1912, S. 1-38)

((38)) Damit es nicht scheint, daß ich den Mund zu voll nehme, wenn ich das Husserl angelegene Bewußtsein gleichsam wegwische, will ich ausnahmsweise über die Antikritik hinausgehen und in extremer Kürze — ohne Erläuterung der verwendeten Begriffe, die aus meinen Büchern leicht ersichtlich ist —skizzieren, was ich an die Stelle dieses Bewußtseins setze. An der Quelle befindet sich das effektive Betroffensein, das nicht unbewußt sein kann, weil es dann nicht affektiv wäre. Es beruht auf der Enge des Plötzlichen, das Dauer und Weite zerreißt und Identität, Sein und Subjektivität mitbringt. Diese primitive Gegenwart setzt sich in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikadon zu einem Leben in primitiver Gegenwart fort, das Tiere und Menschen führen. Menschen (mit Fähigkeit zu satzförmiger Rede) werden obendrein einbezogen in die Entfaltung der primitiven Gegenwart in fünf Dimensionen, von denen eine die personale des Eigenen und Fremden ist. Dabei wird der bloß identische Bewußthaber zum einzelnen (d. h. mit der Fähigkeit, die Anzahl einer endlichen Menge um I zu vergrößern, ausgestatteten) personaten Subjekt. Das personale Subjekt lebt ambivalent zwischen entfalteter und primitiver Gegenwart in einer persönlichen Situation, die ihm zugleich Hülle und Partner ist, von ihm aber auch in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation unterschritten wird zur Offenheit für widerfahrende vielsagende Eindrücke. Die persönliche Situation. in der unzählige Situationen gleiten und die in Situationen gleitet, wandelt sich lebenslang, in der Auseinandersetzung mit solchen Eindrücken (impressiven Situationen).

((39)) Unter ((9)) weist Bermes meine Auffassung der unwillkürlichen Lebenserfahrung als „kritische Instanz wie das Gewissen" ((38)) zurück, um Husserl gegen meinen in ((5I)) erhobenen Einwand zu schützen. Er hält mir vor, die Lebenserfahrung und die mit ihr verbundenen Phänomene könnten in einem rationalen Verfahren aufgewiesen werden. Ganz meine Meinung! Ich bemühe mich um nichts anderes. Die phänomenologische Revision gilt mir als das berufene rationale Verfahren. Aber auch sie kommt nicht aus ohne eine Abstraktionsbasis, die der Lebenserfahrung etwas antut. Man macht sich etwas vor, wenn man sich einredetet, sich nichts mehr so vorzumachen, daß dagegen nicht die unwillkürliche Lebenserfahrung als kritisches Gewissen gebraucht würde. Den Schluß der Kritik von Bernres kann ich nur als schlechten Witz auffassen: Das Neue der Neuen Phänomenologie soll darin bestehen, daß das Selbst der Selbstreferenz den Namen „Schmitz" bekommt. Solchen Übermut überbietet Bermes mit der ans Ende gesetzten Anmerkung 9: „Wenn die Welt voll von Halbdingen ((17)) wäre, wie Schmitz meint, wäre sie genau so langweilig wie ein Kühlschrank voller Eiswürfel." Mit Verlaub gesagt, zwar nicht Bemies selbst, wohl aber dieser Satz ist einfach dumm. Bermes schießt sich auf das Wort „voll" in ((17)) ein. Was hält er von dem dem Thales zugeschriebenen Satz: „Alles ist voll von Göttern" (Actius Placita 17, 11)7 Wenn es so wäre, wäre die Welt dann auch so langweilig wie ein Eisschrank voller Eiswürfel?

((40)) WIEGERLING hält der Neuen Phänomenologie eine nach seiner Meinung unlösbare Aufgabe vor, die sie sich aufgeladen habe: „Schmitz betont, daß die Phänomenologie in die wissenschaftliche Philosophie gehört ((37)). Zwischen dem, was er aber als unwillkürliche Lebenserfahrung bezeichnet, in der sich letztlich alle Erkenntnis ereignet, und der Darstellung dieser Erkenntnis tut sich allerdings eine kaum überwindbare Lücke auf, die ebenso groß erscheint wie in der Mystik." ((8)) Was ich „unwillkürliche Lebenserfahrung" nenne, habe ich oben unter ((5)) angegeben: „alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben." Alles echte affektive Betroffensein, z. B. von Zahnschmerz oder von Liebe, ist von dieser Art. Daß es nur in kultureller Geformtheit, mit entsprechenden Unterschieden zwischen Kulturen, vorkommt, was Wiegerling mir gleichfalls vorhält, ist kein Einwand. Die kulturelle Geforrntheit der Liebe habe ich ausführlich an der europäischen Geschichte nachgewiesen. Mag aber auch die Weise, wie der Schmerz oder die Liebe usw. jemanden packt, noch so sehr durch die zuständlichen gemeinsamen Situationen, in denen er lebt, mitbestimmt sein, das ändert nichts daran, daß der Betroffene sich die Liebe oder den Schmerz oder etwas anderes, das ihm unterläuft oder ihn packt, keineswegs in konstruktiver Absicht zurechtgelegt hat, so daß es sich um ein Stück seiner unwillkürlichen Lebenserfahrung handelt. Die kulturelle Formung vereitelt nicht die Möglichkeit sinnvollen Kulturvergleiches und schließt interkulturelle Invarianten nicht aus. Zur kritischen Instanz wird die unwillkürliche Lebenserfahrung, die im unverstellten Betroffensein das Vertauteste ist, für die phänomenologische Reduktion von einer Abstraktionsbasis aus, auf der dank sprachlicher und geschichtlicher Vorprägung das Unmittelbare immer nur gefiltert für Begreifen und Bewerten zur Verfügung steht. Ein Spalt bleibt immer, ist aber bei geschicktem Umgehen mit ihm asymptotischer Verkleinerung zugänglich. Daran ist nichts Mystisches.

((41)) Unklar ist Wiegerling über die Rolle der Reinheit in der Phänomenologie. Er warnt mich: „Und hier scheint das große Problem von Schmitz zu liegen, daß er nämlich nach einer vermeintlichen Reinheit der Erfahrung strebt, die er aber such und gerade in der leiblich disponierten unwillkürlichen Erfahrung nicht bekommen kann." ((7)) Reinheit von Phänomenen

((41)) ist nichts als säuberliche Herausschälung der Sachverhalte, denen der sich Besinnende jeweils den Glauben an ihm Tatsächlichkeit im Ernst nicht verweigern kann, aus beliebigen Annahmen, wobei aber nie sicher ist, daß solche Reinheit erreicht wird, weil niemand weiß, ob die Weite seiner Betrachtung reicht, um in phänomenologischer Revision alle Gegenm üglichkeiten auszuschöpfen. Auf eine Reinheit des Inhaltes oder der Er• fahreng kommt es dafür nicht an, schon gar nicht als das „Problem, daß sinnliche Daten nie rein gegeben werden können" ((7)). Darüber habe ich keine Belehrung durch Cassirer nötig.

((42)) Eigenartig berühren mich die Versuche von Wiegerling, meinen Standpunkt geschichtlich einzuordnen. Die Nähe zu Klages, Heidegger und Mach ist mir zwar ersichtlich, aber der Monisrnus Machs, der seiner positivistisch gewendeten unio mystica die Subjektivität opfert, liegt mir fern. Ganz abwegig scheint mir die Erörterung, ob ich den Titel eines Phänomenologen beanspruchen darf, nachdem ich der „Bewußtseinsphilosophie" in den Spu• ren Husserls abgeschworen habe. Es wäre fürchterlich, wenn künftig das systematische Bemühen, den festen Boden des jeweils unhintergehbaren Glaubens unter dem Haufen der dem Belieben verfügbaren Annahmen auszugraben, also die Phänomenologie, dem verwehrt werden sollte, der nicht den Illusionen Husserl mit dem Bewußtsein an der Spitze seinen Tribut zollt, Phänomenologie darf nicht Husserl-Scholastik sein.

((43)) PIEPER beginnt sein Plaidoyer für Rückkehr der Neuen Phänomenologie in den Schoß der alten mit hübschen Beobachtungen an meinem Sprachgebrauch im Thesenpapier; sie haben mich amüsiert. Dagegen mißbillige ich seinen Vorwurf. „Erst recht muß die Vorstellung befremden, die neuzeitliche Geschichte der westlichen Welt lasse sich auf philosophische Fehlentwicklungen reduzieren." ((2)) So etwas habe ich nie behauptet. Ich erinnere an meine Bemerkung in ((14)) überdas Christentum, hinter der die breiten Ausführungen in Adolf Hitler in der Geschichte stehen. Wer wollte behaupten, das Christentum lasse sich auf philosophische Fehlentwicklungen reduzieren? Aber freilich hatten solche entscheidenden Einfluß auf die Bahn, die das Christentum der Geschichte gewiesen hat. Falsch gezielt ist auch die Apologie der Aufklärung gegen meine „Ideologieverdächtigungen" in ((7)). Ich bin selbst ein begeisterter Aufklärer, der sich auf Hume beruft ((31)), den „Urphänomenologen" ((34)). Mein Vorbehalt gegen die spezielle Gestalt, die die Aufklärung im 18. Jahrhundert angenommen hat, ist in Adolf Hitler in der Geschichte auf S. 239-242 unter dem Titel „Antike und moderne Aufklärung" formuliert.

((44)) Ab ((9)) bis zum Ende verteidigt Pieper Husserl gegen meine Vorbehalte. Ich freue mich über jede Brücke, die mir zu Husserl gebaut wird, sie muß nur halten. Husserl untemimmt nach Pieper eine „Reduktion (...) auf die Welt in ihrem Rückbezug zur sie bewußthabenden Subjektivität und auf die Subjektivität in ihrer Bezogenheit auf ein Universum von Objekten." Aber leider hat er nicht die Subjektivität in meinem (von Fichte entdeckten, aber schlecht gefaßten) Sinn, die strikte Subjektivität, im Sinn, sondem nur die positionale, cartesischc, vgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 363382 und die breitem Ausführung in meinem Buch Husserl und Heidegger. Das von Husserl mit intentionalen Akten und hyletischen Daten gefüllte Bewußtsein halte ich für eine Fiktion, s. o. ((38)). Daß Husserl sich an ein solches Bewußtsein klammert, ist Ergebnis seiner Einschnürung in den traditionellen Psychologismus laut Punkt ((10)) meines Thesenpapiers. Dieses Korsett produktiv (nicht nur polemisch) zu sprengen, ist Aufgabe der Neuen Phänomenologie, und deshalb kann ich nicht glauben, daß sie gegenüber der Husserrschen eine „deutliche Verengung" bringt, wie Pieper mit der falschen Begründung behauptet, meine Phänomenologie betreffe nur die „vorprädikative Lebenserfahrung" ((11)). Darf ich ihn auf die Bände M./3, 111/4 und IV meines Werkes Syriern der Philosophie hinweisen?

((45)) Besonders ungünstig fällt bei Pieper der Vergleich meiner phänomenologischen Methode mit der von Husserl aus. Jene hat er im Verdacht, „ins Beliebige" zu führen; es sei „überhaupt keine wissenschaftliche Methode spezifiziert" ((11)). Dagegen empfiehlt er Husserls Programm: „Weitreichende philosophische Relevanz gewinnt die Strukturanalyse verdeckter Schichten des Erlebens jedoch erst im Rahmen ausgewiesener Transundeetuiphilosophie." ((13)). Auf dem hohen Roß der Transundeneilphilosophie reitet der Phänomenologe Hesseil'scher Provenienz „frei ins willenlose Netz" (Goethe) der Verstrickung in angemaßte Letztbegründung, die vielmehr Selbstblendung ist. Um dieses Unglück zu vermeiden, deklariere ich Phänomenologie konsequent als empirische Wissenschaft, die an Tiefe und Spannweite hinter der Transzendentalphilosophie aber nicht zurückbleibt, indem sie sich anheischig macht, durch Abstieg zur primitiven Gegenwart die Ermöglichung von Welt, Sein, Identität und Ich (d. h. Subjektivität) aufzudecken. Den Verdacht, der Glaube an Auffindbarkeit von Phänomenen gemäß Nr. ((4I)) meines Thesenpapiers sei ein „bloßes Konstrukt' ((13)), kann ich nicht durch ein Argument widerlegen, sondem nur durch die Tat. Als Beispiel wähle ich gern den Sachverhalt, den mein (mündlicher) Anspruch des Satzes Jetzt erschallt Geräusch" beschreibt, sowie die von Joseph Geyser beschriebene Szene, wo er, auf ein mit schwarzen Lettern bedrucktes, weißes Papier blickend, nicht umhin kann, sich einzugestehen, Bestrehie9n,26dasß.n2i0c2h)t alles einfarbig ist, denn: "Dieses Schwarz hier ist verschieden von diesem Weiß hier." (Auf dem Kampffelde der Logik Freiburg i. Br. 1926, S. 202)

((46)) Pieper schließt mit den Behauptungen: „Die Bruchlinie zwischen einer alten und einer neuen Phänomenologie ist nicht zu erkennen (...). Radikal neu an der Neuen Phänomenologie ist wohl nur das N." Ich ordne mistaätechihalsicgh den vvgern in de mindren Strom einer sowohl alten als neuen Phaenornenologia semper reformanda ein, wenn es mir nur gelingt, nicht nur die Fenster dm von Husserl ihr eingerichteten Gefängnisses zu öffnen, wie schon Heidegger Weg insFreie kein Feldzug folgte, sondern tat-

((47)) Meine Hoffnung, ehe eben angebotene Einordnung könnte gelingen, erhält kräftige Nahrung durch den Aufsatz von SEPP, der meinen Intentionen so nahe kommt, daß ich seine Ausführungen weitgehend als Beitrag zum Verständnis der meinigen empfehlen kann. Für überflüssig halte ich allenfalls die Rangordnung mit Hilfe des Wortes „primär" in folgendem Satz: „Demnach ist Phänomenologie Forschung primär nicht aus dem Grund, weil sie mit einer spezifischen Methodik Spezifisches an irgend welchen Sachen entdeckt, sondern die Zugangsweisen der pluralen phänomenologischen Positionen selbst ins Licht stellt." ((2)) Beides, Selbstklärung und Sacharbeit, gehören nach meiner Überzeugung ohne Vorzug einer Seite vor der anderen zusammen. Schon in System der Philosophie Band III Teil 1 S.I f. habe ich demgemäß herausgestellt, daß die Explikation des eigenen diffus-ganzheitlichen Glaubens zu einzeln prüfbaren Annahmen und die Herausschälung von Phänomenen durch Variation solcher Annahmen Hand in Hand gehen.

((48)) Zur Rechtfertigung fordert mich der Vorwurf von Sepp ((7)) heraus, mein Zusatz „Neue" zu „Phänomenologie" entspringe als „Eingrenzung dem Bedürfnis nach Machtgewinn". Diesen Vorwurf bereitet cr in ((5)) mit dem Hinweis vor, ich nähme neuere Versuche der Husserl-Exegese in der japanischen Phänomenologie und der französischen Alter-Gruppe nicht so ernst, wie Husserl es verdienen könnte. Mein Bemühen einschließlich der Namenswahl wurzelt nicht im Willen zur Macht, sondern in der Sorge, daß Husserl die Phänomenologie zwar auf den Weg gebracht hat, aber auf einen Irrweg, der die unwillkürliche Lebenserfahrung durch die Vorurteile der klassischen europäischen Metaphysik verstellt und den vier Verfehlungen des abendländischen Geistes nach Punkt ((48)) meines Thesenpapiers ausliefert, Ich fürchte, daß der Versuch, solche Mängel durch das „Hineingeheimnissen" von Vertiefungen der von Sepp in 1(5)) angegebenen Art in die Husserl-Exegese auszugleichen, den Schaden vertuscht und dadurch sein Weiterwuchem fördert.

((49)) BREIDBACH zeigt viel Verständnis für das Programm meiner Phänomenologie, objektive Tatsachen in der Perspektive subjektiver Probleme aufzusuchen, erhofft sich aber darüber hinaus eine Synthese der Phänomenologie mit einer mit Geiste Goethes ((8)) zur Subjektivität geöffneten Naturwissenschaft; wenn ich ihn recht verstehe, ist das der Sinn seines Satzes: „Eine umfassende Subjektivität muß diese Objektivität der Wissenschaft mit umgreifen." ((15)) Eine umfassende Subjektivität gibt es nicht. Dafür kann ich mich auf Sepp ((4)) berufen: „Phänomenologische Forschung ist nur so lange neu, als eine Spannung erhalten bleibt zwischen dem philosophischen Anspruch, ein Gesamt zu repräsentieren, und dem Eingeständnis, daß Evidenz stets nur in Bezug auf einen Ort, von dem aus das Gesamt angepeilt wird, erlangt werden kann." Für diese Spannung gibt es zwei konsequente Lösungen: die naturwissenschaftliche und die phänomenologische. Die naturwissenschaftliche Konsequenz besteht in der Beschränkung der Abstraktionsbasis auf einen bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbaren Ausschnitt der Lebenserfahrung mit der von mir skizzierten prognosedienlichen Nachbereitung durch Statistik, Experiment und mathematische Konstruktionen. Die phänomenologische Konsequenz besteht darin, auf einer möglichst weit gespannten Abstraktionsbasis mit klaren Begriffen und prüfbaren Behauptungen nach Sachverhalten zu fahnden, denen der Forscher die Anerkennung als Tatsachen nicht verweigern kann, und dabei die eigene Perspektive zur Bestätigung, Ergänzung oder Korrektur durch Zeugnisse aus anderen Perspektiven offen zu halten. Vor der Phänomenologie ist die Naturwissenschaft dadurch im Vorteil, daß sie sich unbefangen auf intersubjektive Objektivität berufen kann. Vor der Naturwissenschaft ist die Phänomenologie dadurch im Vorteil, daß sie der Selbstbesinnung ergiebige Wege zu den Tatsachen der Lebenserfahrung anbietet, während die Naturwissenschaft blasse Tatsachen über Meßdaten in Konstruktionen verschluckt und aus diesen durch Zwecke geschiente Tatsachen prognostischer Bewährung hervorzaubert. In der Mitte zwischen diesen beiden konsequenten Formen der Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Universalität und Einseitigkeit stehen die „weicheren", von Breidbach in Punkt ((9)) behandelten induktiven Wissenschaften (Psychologie, Soziologie), deren exemplarische Methode nach ((10)) der Fragebogen ist.

((50)) Vor voreiligen Synthesen warne ich. Breidbach ((18)) postuliert einen von der Hirnforschung angebotenen „Phänomenraum", in dem „eine umfassend ansetzende Phänomenologie mit dem so offerierten Datenvorrat umgehen" müsse. Die Daten sind in der Hirnforschung aber nichts als die Basis der Konstruktionen und sogar selbst Konstrukte der zu ihrer Messung benützten, nach physikalischen Theorien konstruierten Apparate. Eine Zusammenarbeit von Phänomenologie und Hirnforschung kann ich mir gut in der Weist vorstellen, daß die Phänomenologie neunpsychologisch interessante Fragestellungen abwirft. Dagegen sind die Ergebnisse phänomenologischer Forschung mit jedem beliebigen Ergebnis der Himforschung vereinbar.

3. Naturwissenschaft

((51)) KANITSCHEIDERS Haupteinwand ist „natürlich der naive und dogmatische Ausgang der Phänomenologie von der Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" ((33)). Ein solcher Ausgang findet nicht statt, vielmehr der Rückgang auf die unwillkürliche Lebenserfahrung im oben unter ((5)) definierten Sinn alles dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben. Zweck dieses Rückgangs ist das Ende ungeprüfter Dogmatik in radikaler Vergewisserung über das, was der Prüfende jeweils gelten lassen muß, d. h. welchen Sachverhalten er die Anerkennung ihrer Tatsächlichkeit nicht im Ernst entziehen kann. Davon können die absichtlichen Konstruktionen der Naturwissenschaften so wenig wie z. B. die theologischen ausgenommen werden, und dann zeigt sich, daß sie ihre Glaubwürdigkeit allein der Bewährung bei Prognosen für die „Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" verdanken. Das hat Konsequenzen nicht gegen ihre Plausibilität, aber für den Anspruch auf kausale Erklärung dieser Alltagswelt im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes ((24)). Damit ist keine Opposition gegen die Naturwissenschaft verbunden, wenn diese keine überzogenen metaphysischen Ansprüche stellt und nicht „mit hochfahrendem Stolz auf die Objektivität der vermeintlich bloß noch neutralen Tatsachen" ((33)) „blind für Subjektivität" ((34)) wird. Nie habe ich „die Mathematisierung und die experimentelle Methode" beklagt, schon gar nicht in ((17)), wie Kanitscheider mir vorwirft; ebenso wenig habe ich in ((23)) versucht, „das menschliche Erleben von der Aktivität des Gehirns zu trennen", als ob ich bezweifelt hätte, daß die naturwissenschaftliche Gehirnforschung sehr interessante und hilfreiche Korrelationen zwischen ihrem Objekt und dem Erleben ermittelt hat und sicherlich weiter ermitteln wird.

((52)) Die materialistische philosophy of mind ist mir allerdings suspekt, was mich aber keineswegs (wie Kanitscheider behauptet) gehindert hat, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Die Neurophilosophie solcher Autoren wie Churehland widerlege ich in Was ist Neue Phänomenologie? S. 34-38; ferner verweise ich auf meine Auseinandersetzungen mit G. Roth (Der Spielraum der Gegenwart 5. 16-20) und M. Bunge (Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14.3, 1989, S. 71-73). Die philosophy of mind geht von der antiquierten, phänomenologisch unheilbaren Gegenüberstellung von body und mind (oder mental phenomena) aus, wobei unter mental phenomena das Heterogenste (z. B. persönliche Stellungnahmen, der spürbare Leib, Gefühle als Atmosphären, bedeutsame Situationen) vermischt wird, und stellt diesem immerhin phänomenalen Sammelsurium das naturwissenschaftliche, aus Messungen mit Apparaten der Physik plausibel konstruierte Gehirn (oder auch andere Körperteile) in offen oder verdeckt kausaler Rolle gegenüber. Das kann sogar richtig sein, ist aber als Erkenntnis nicht zu rechtfertigen, wie meine Einwände unter ((24)) und ((26) zeigen; die Kausalität des Gehirns für das Erleben ist so sehr und so wenig wahrscheinlich wie die Kausalität eines übermenschlichen Wesens (c. B. Gottes), das die Ereignisse so steuert, daß die Erwartungen des Gehimforschers so gut oder schlecht, wie die Erfahrung zeigt, bestätigt werden, ohne daß eine physische Kausalität dazwischen kommt. Wenn man der Kausalität durch Identität von Gehirn und Erleben zu entkommen sucht, entgeht man nicht der Forderung kausaler Erklärung dafür, daß das Gehirn auch als Erteben (oder umgekehn) vorkommt, und hat also nichts gewonnen.

((53)) Besonders bezichtigt mich Knnitscheider der Ignoranz wegen meiner Bemerkungen ((27)) - ((29)) zur Physik der Zeit. Die Pointe meiner Argumentation unter ((27)) hat er offenbar nicht verstanden. Die Zeit der Physik ist eine reine Lagezeit, d. h. eine Anordnung von Ereignissen durch die Relation des Früheren zum Späteren oder Gleichzeitigen. An der Abfolge solcher Ereignisse beobachtet die Physik sogenannte irreversible Prozesse, z. B. Wachstum der thermodynamischen Entropie oder vielleicht Expansion des Universums (Beispiele von Kanitscheider). Sie erfaßt damit in ihrer reinen Lagezeit aber nur monotone Funktionen, deren Werte sich stets in zwei Richtungen ablesen lassen, ohne irgend eine von ihnen auszuzeichnen. Um von der monotonen Funktion zur Richtung eines Prozesses zu gelangen, muß der Physiker eine Anleihe bei seiner unwillkürlichen Lebenserfahrung einer modalen Lagezeit machen, genauer noch bei deren Fluß. Daß dieses Fluß-Bild so metaphorisch ist wie das bei Physikern beliebte vom Pfeil der Zeit, tut trotz Kanitscheider nichts zur Sache, weil ich in ((28)) genau sage, was ich damit meine: daß die Gesamtvergangenheit wächst, die Gesamtzukunft schrumpft und die Gesamtgegenwart wechselt. An diesen Fluß der Zeit muß der Physiker sich halten, nicht, um eine Richtung der Zeit selbst - davon ist nicht die Rede -, sondern, um eine Richtung irgend welcher Prozesse (mit oder ohne „t-Spiegelung") annehmen zu können. Einen Prozeß ohne Richtung kann es aber nicht geben; von Prozessen oder Abläufen kann der Physiker daher nur sprechen, indem er eine Anleihe bei dem in seiner Theorie gar nicht bedachten Fluß der Zeit im Sinne der modalen Lagezeit macht.

((54)) Ganz besonders böse ist Kanitscheider aber meine Auseinandersetzung mit der Relativitätstheorie. „Seit Bergson hat wohl kaum wieder jemand die Spezielle (513T) und die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) so mißverstanden." Das soll bezüglich ersterer der Fall sein, weil diese als reversible Theorie über die Richtung der Zeit keine Aussage mache. Das habe ich ihr auch nicht nachgesagt; von einer Richtung der Zeit ist nicht die Rede, sondern von der Richtung von Prozessen, die die spezielle Relativi-tätstheorie mindestens für Lichtsignale in Anspruch nimmt, um u. u. einen Begriff der Gleichzeitigkeit einzuführen. Gleichzeitigkeit ist ein Begriff nut einer lagezeitlichen und einer modalzeitlichen Komponente. Die modalzeitliche ergibt sich aus dem Axiom: „Mit jedem Ereignis ist jedes und nur jedes gleichzeitige Ereignis gegenwärtig." Dank dieser Unterstellung wird mit der Gleichzeitigkeit auch die Gegenwart lokal relativiert, damit aber auch der Fluß der Zeit; auf diese Weise zerstört eine so verstandene Relativitätstheorie ihre eigenen Voraussetzungen. Ob sie so verstanden werden muß, will ich nicht entscheiden und spreche daher in ((28)) von einem Anschein („Dies scheint die spezielle Relativitätstheorie..."). Keinesfalls betrifft der Fehler die bloß lagezeitliche Gleichzeitigkeit und überhaupt die Zeitmetrik, über die ich mich von der Theorie (etwa betreffend die Abhängigkeit des Alterns vom Bewegungszustand) gern belehren lasse.

((55)) Denselben Fehler, nicht zwischen Lagezeit und Modalzeit zu unterscheiden, begeht Kanitscheider wieder, wenn er mich von der vermeintlichen Dynamik des Weltbildes der allgemeinen Relativitätstheorie belehren will und als Beleg den Gebrauch nennt, den die Kosmologie von „dieser dynamischen Raumzeit" mache. Die Zeit der allgemeinen Relativitätstheorie ist eine reine Lagezeit, die aus dem eben ((53)) angegebenen Grund keine Richtung und keine Prozesse kennt, und daher eo ipso statisch. Die allgemeine Relativitätstheorie benötigt - im Gegensatz zur speziellen - allerdings keine Prozesse mehr, aber dadurch wird sie so statisch, daß der Wissenschaftler, der sie als Beschreibung der Wirklichkeit behauptet, seinem Anspruch, ein Wissenschaftler zu sein, in performativen Widerspruch gerät ((29)). Ob er dabei versucht, „Erklärungen für die unwillkürliche Lebenserfahrung zu bilden", wogegen Kanitscheider ihn in Schutz nimmt, ist für den performativen Widerspruch belanglos. Sofern er aber die allgemeine Relativitätstheorie benützt, um als dynamischer Kosurologe einen Prozeß der Expansion des Weltalls vom Urknall auf Nimrnerwiederschen zu konstruieren, macht er dieselbe Anleihe bei der unwillkürlichen Lebenserfahrung wie jeder Physiker zwecks Behauptung irreversibler Prozesse, s. 9: «53»

((56)) SCHRÖTER läßt einer Skizze seiner an Ludwig angelehnten Theorie der Physik eine scharfe und selbstsichere Kritik meines Thesenpapiers („Entzerrung eines Zerrbildes") folgen. Weil er sich dabei auf die Skizze beruft, gehe ich zuerst auf sie ein. Sie krankt an Gewagtheit und Verschwommenheit, besonders beim Begriff „Wirklichkeitserschließung". Aus einer axiomatisch formulierten physikalischen Vortheorie sollen mit Hilfe eines logischen Beweisschemas „bisher unbekannte Elemente der Wirklichkeit" erschlossen werden; als Beispiel nennt er den „Begriff der Energie in der Mechanik oder Elektrodynamik". Wirklichkeit kann durch logische Beweisschemata nicht erschlossen werden. Solches zu versuchen, war der Fehler des ontologischen Gottesbeweises. „Wirklichkeit" ist ein großes Wort. Ich habe bewiesen, daß es kein Kriterium der Wirklichkeit (im Sinne einer zirkelfrei angebbaren notwendigen und zureichenden Bedingung dafür, daß etwas wirklich ist) geben kann, dafür aber einen empirischen Zugang zur Wirklichkeit (dem Sinn nach, noch vor der Frage, was wirklich ist) angegeben (Der Spielraum der Gegenwart S. 20-37); woher Schröter das Recht nimmt, sich das Wort „Wirklichkeit" in die Feder fließen zu lassen, sagt er dagegen nicht. Wenn er es z. B. auf Energie anwendet, begibt er sich in den hypothetischen Vernunftgebrauch im Sinne von Kant. Wie verschafft die Physik solchen Konstrukten Respekt angesichts der Wirklichkeit? Doch nur durch Bewährung im Bereich aller satzförmig registrierbaren Ergebnisse von Beobachtungen laut Punkt ((24)) meines Thesenpapiers. Solche Bewährung vollbringt in der Physik das die Theorie bestätigende Experiment. Für dessen Leistung hat Schröter den Satz: „Durch Experimente wird die sprachlich erschlossene Wirklichkeit an die Alltagswirklichkeit angeschlossen." ((9)) Was heißt hier „angeschlossen"? Das Wort klingt wie freundliche Herablassung, aber wenn der Anschluß nicht in der Bewährung von Prognosen in der Alltagswelt besteht, ist es um die Glaubwürdigkeit der von physikalischen Theorien erschlossenen Wirklichkeit schlecht bestellt.

((57)) Nun zur „Entzerrung eines Zerrbildes". Vergebens tastet Schröter danach, was ich „Abstraktionsbasis der Physik" nenne. Diese besteht laut ((2)) und ((16)) meines Thesenpapiers in den der unwillkürlichen Lebenserfahrung entnommenen Merkmalsorten, aus denen die in Experimenten gemessenen Daten bezogen werden. Schröter verfällt dagegen auf den Begriff des Ereignisses, der zwar für physikalische Theorien, aber noch nicht fdr die dafür zu Grunde gelegte Abstraktionsbasis konstitutiv ist. „Der Begriff Ereignis umfaßt alles, was in der Welt passiert, sofern es von einem Beobachter (...) registriert ist." (Etwa auch Stimmungsschwankungen und feierliche Stille? Paßt das wirklich in die Physik?) „Da Ereignisse gezielt gesucht und herbeigeführt werden können, ist dieser Begriff nicht auf die (...) unwillkürliche Lebenserfahrung zurückzuführen." Wieso denn nicht? Erstens gibt es viele Ereignisse, die jemandem unwillkürlich widerfahren, und zweitens besteht die Zurückführung gerade in der Feststellung willkürlicher Auswahl oder Manipulation an unwillkürlich vorgegebenem Material.

((58)) Nachdem Schröter den Begriff der Abstraktionsbasis als „der Physik nicht angemessen" zurückgewiesen hat, bleibt er trotzdem dabei, um zu zeigen, daß eine solche Abstraktionsbasis, selbst wenn es sie gäbe, nicht reduktionistisch wäre. Sein Argument besteht in der entwaffnenden Frage: „Denn welche Begriffe sind weniger eingeschränkt als dieser Ich verweise auf den elementaren logischen Satz, daß Inhalt und Umfang eines Begriffes reziprok sind: Je weiter der Umfang, desto ärmer der Inhalt. Zwar ist nach Punkt ((4)) meines Thesenpapiers nicht jede Abstraktion reduktionistisch, aber jeder Reduktionismus ist abstrakt, und wenn die unwillkürliche Le-benserfahrung so kräftig reduziert wird wie in der Physik, kommen Begriffe heraus, die zwar nicht die uneingeschränktesten sind, aber immerhin sehr weiten Umfang haben.

((59)) Mit meinem peiorativen Begriff des Konstellationismus laut ((12)) und ((43)) setzt sich Schröter nach Fehldeutung auseinander. Ich verstehe darunter den Versuch der Ersetzung von Situationen durch Konstellationen, d. h. Vernetzungen einzelner Faktoren, bis zur Verleugnung der Situationen. Aus dieser Frontstellung macht Schröter ein simples Plaidoyer für das Ganze, das mehr ist als die Summe seiner Teile, und setzt dagegen, daß in der Physik „Komplexität aus Teilen zu gewinnen ist", Aber zur Situation gehört nicht nur Ganzheit, sondern auch binnendiffuse Bedeutsamkeit aus nicht sämtlich einzelnen Sachverhalten, Programmen und Problemen, und die kommt in der Abstraktionsbasis der Physik nicht vor.

((60)) Um das Gericht über meine Charakterisierung der Physik voll zu machen, greift Schröter auch noch die Merkmale der mathematischen Modellierung und der experimentellen Methode an. Aber die mathematische Modellierung ist genau das, was er selbst in ((5)) als „Rahmendefinition des Begriffs physikalische Theorie im L-Konzept" vorschlägt. Und daß die experimentelle Methode für die Experimentalphysik unwesentlich sein soll, ist doch wohl die Höhe. Schröter verweist für diese gewagte Behauptung auf seinen Punkt ((9)), aber dort findet man nur das Schwrunmwort „angeschlossen".

((61)) In ((12)) und ((13)) geht Schröter von der Physik im Allgemeinen zu der von mir in ((27)) - ((29)) angesprochenen Physik der Zeit über. Nach wenigen Zeilen führt ein eigenmächtiger Klammerzusatz seine Polemik auf Abwege. Ich behaupte nach ihm, daß „sich keine eindeutige Richtung (der Lagezeit) ermitteln" läßt. Ich denke nicht daran, der bloßen Lagezeit eine Richtung zuzutrauen; meine These ist vielmehr, daß sich für beliebige Prozesse eine Richtung nur aus dem Fluß der Zeit in dem in ((28)) angegebenen Sinn und damit aus der Modalzeit gewinnen läßt. Diese Pointe hat Schröter nicht verstanden, weil er den Unterschied zwischen einem gerichteten Ablauf oder Prozeß und einer „Signal- oder Kausalrelation", wovon er statt dessen in ((12)) spricht, ignoriert. Eine solche Relation linearer Ordnung zeichnet keine Richtung eines Ablaufs aus, denn die Anordnung durch die Relation des Früheren zum Späteren im abstrakt mathematischen Sinn stimmt genau überein mit der Anordnung durch die Relation des Späteren zum Früheren. Das gilt auch für die mit fragwürdigem Recht so genannten irreversiblen Prozesse, die man gemäß dem Zeitbegriff der theoretischen Physik nach Belieben als monoton wachsende oder monoton abnehmende Anordnungen auffassen kann. Sobald man freilich von der Gegenwart des Beobachters spricht, hat man den Fluß der modalen Lagezeit eingeholt, aber nur verbal; in der Tat ist man aus der physikalischen Theorie in die unwillkürliche Lebenserfahrung hinübergesprungen, denn für die Physik ist Gegenwart irgend ein Zeitpunkt, und daß es einen vor allen anderen Zeitpunkten ausgezeichneten, den gegenwärtigen, gibt, kommt in ihr nicht vor.
((62)) Unter ((13)) bestreitet Schröter, daß es zwischen spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie einen Unterschied im Zeitbegriff gebe, weil die spezielle Theorie ein Spezialfall der allgemeinen sei. Das ist schon logisch nicht korrekt, denn vom speziellen Fall darf man nicht auf den allgemeinen schließen. Abgesehen davon sehe ich den Unterschied darin, daß man fdr die spezielle Relativitätstheorie Prozesse benötigt, in der allgemeinen aber mit Ordnungsrelationen (a B. Signalrelationen) auskommt. Auf diesen Unterschied habe ich gerade aufmerksam gemacht. Zu dem Einwand, die allgemeine Relativitätstheorie sei nicht statisch, s. o. ((55)).

((63)) Unter ((14)) weist Schröter die mir von ihm zugeschriebene Behauptung zurück, die Naturwissenschaften strebten eine umfassende Erklärungsleistung an, aber das habe ich nie behauptet; in ((21)) benenne ich „Vorkämpfer der Naturwissenschaft in der öffentlichen Meinung (oft selbst Naturwissenschaftler)" für einen solchen Anspruch, keineswegs „die Naturwissenschaften" oder - eine andere Formulierung von Schröter - „die (Vertreter der) Naturwissenschah". In den Schlußabschnitten ((15)) und ((17)) legt Schröter eine Giftspur. Der Tenor von ((15)) geht dahin, es habe keinen Sinn, mit solchen Sonderlingen wie mir über Physik zu sprechen. Dieses wegwerfende Urteil unterbaut er unter ((16)) mit einer Anschwärzung, die mich zum Adepten der hippokratischen Medizin und Astrologie verdreht und dem Spott aufgeklärter Wissenschaftler wie Schröter aber so viel Obskurantismus aussetzt. Hätte Schröter den letzten Satz von Punkt ((42)) meines Thesenpapiers berücksichtigt, wäre ihm die Chance solcher Herabsetzung entgangen.

((64)) HOFMANN wagt einen „Großangriff' auf zentrale Positionen von mir, wofür ich ihm sehr danke, weil er mir Gelegenheit zur Profilierung gibt. Meine Kritik beruht nach ihm auf „Mißverständnissen und unschlüssigen Argumenten" ((2)). Genau das möchte ich nun der seinigen nachweisen. Diese beginnt mit einigem Vorgeplänkel. Aus meinem Punkt ((11))• liest er in ((1)) heraus, die Naturwissenschaft habe die wichtigsten Massen der Lebenserfahrung vergessen, und verweist mich auf naturwissenschaftliche Studien zu Gefühlen, Körperwahrnehmung, Kommunikation und Situationen. Dabei unterschlägt er in meinem Punkt ((11)) das Wort „damals", d. h. zur Zeit Demokrits und Platons. Die mächtige Prägekraft ihres Paradigmas wirkt bis heute verkürzend und verzerrend auf die entsprechenden naturwissenschaftlichen Studien und macht deren phänomenologische Ergänzung erforderlich. Für ungünstige Wertungen, die er in ((5)) aus meiner Wortwahl heraus liest, vermißt er eine Begründung, die er in ((49)) hätte finden können. Die Vorwürfe wegen Wortwahl sind aber unberechtigt. Ich schreibe in ((4)) „zersetzt", nicht — wie er ergänzt — „zersetzend", ein Wort aus dem Nazi-Jargon, das man aus Geschmacksgründen heute nicht unnötig andeuten sollte, „Abfall" nur in Bezug auf bei Abschleifung abfallende Späne und „langweilig" nicht als Vorwurf an die Naturwissenschaft, sondern an eine Welt, die es zum Glück nicht gibt. Ein weiterer Vorwurf Hofmanns in ((5)) betrifft vermeintliche Unschärfe meines Begriffs der Bedeutsamkeit. Ich verwende das Wort in folgendem Sinn: Bedeutsamkeit ist chaotisches Mannigfaltiges von Bedeutungen. Chaotisch ist Mannigfaltiges, das nicht nur Einzelnes enthält. Einzeln ist, was eine Anzahl um 1 vermehrt (anders ausgedrückt: was Element einer endlichen Menge ist). Bedeutungen sind Sachverhalte, Programme und Probleme. ((65)) In ((6)) beginnt Hofmann seinen Angriff gegen meine Kritik am Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes. Schon dessen Kennzeichnung in ((21)) wird falsch wiedergegeben, erst recht mein Argument in ((24)). Abgesehen von anderen Mißverständnissen, unterstellt er mir aus ((24)) folgende These: „Die Rechtfertigung jeder Kausalaussage über (einen Teil von) W liegt allein darin, daß K durch eine Wahrnehmung (eines Teils) von W bestätigt wird." Durch die eigenmächtigen Klammerzusätze wirft Hofmann mein Argument aus der Bahn. Meine Kritik richtet sich nur gegen den Anspruch auf globale Erklärungsleistung mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild als kausalem Explanans und dem, „was Menschen als sie betreffend oder von ihnen erfahren oder sonst sie berührend erleben" ((21)) als kausalem Explanandum, einen Anspruch, der im Prinzip erhoben wird, auch wenn die Ausführung dahinter zurückbleibt. Dieser Ansprach hat zwei wunde Stellen, die ich in meiner Kritik herausarbeite: 1. Es werden Kenntnisse über kausale Zusammenhänge ohne rechtmäßige Grundlage in Anspruch genommen; diesen Einwand formuliere ich in ((24)). 2. Gemäß dem naturwissenschaftlichen Weltbild verläuft die Verursachung des Erlebens einzelner Menschen in zwei Stufen. Die erste Stufe besteht darin, daß äußere Reize an die Körper der Menschen gelangen. Die zweite Stufe besteht darin, daß diese Körper als ganze oder mit Teilen solche Reize verarbeiten oder neue hinzufügen. Erst in einem dritten Schritt von diesen Transformatoren aus soll das Erleben der einzelnen Menschen kausal erklärt werden. Bei der Auswahl der relevanten Körperteile sind verschiedene Schulen verschieden großzügig; im Mittelpunkt steht aber das Gehirn. Daraus ergeben sich abermals (mit der Summe des Erlebens einzelner Menschen statt der Gesamtheit des Erlebens aller Menschen) meine Einwände aus ((24)) und zusätzlich die aus ((26)). Da durch diese Bedenken die globale Erklärungsleistung des naturwissenschaftlichen Weltbildes unglaubwürdig wird, ergibt sich eine Schwankungsbreite für die Auswahl seiner kausal erklärenden Teile. Deswegen habe ich in ((25)) geschrieben, es sei jedem überlassen, was davon er als nicht bloß prognostisch bewährt, sondem auch kausal erlärend gelten lassen will, aber wenig solle es nicht sein. Das war nicht ironisch gemeint. Viele Theorien der Naturwissenschaft sind so scharfsinnig und plausibel ausgedacht und experimentell so gut bewährt, daß es schwer fallt, ihnen den Glauben zu verweigern.

((66)) In ((9)) unterstellt mir Hofmann die tolle Behauptung, nach der „Gnindaussage der Neuropsycholog,ie" sei alles, was wir erleben und denken, nur eine vom Hirn verursachte lllusion. Statt dessen habe ich in ((26)) aus den betreffenden Thesen nur gefolgert, daß gemäß der Neuropsychologie alles, was sich Menschen darstellt, eine Vorspiegelung ihrer Gehirne wäre, die nur zufällig ein getreuer Spiegel sein könnte. Aber das kann sie zufällig doch sein.

((67)) Daß die Naturwissenschaft Selbstbewußtsein und Subjektivität ausklammere, habe ich nicht behauptet, wie mir Hofmann in ((1ft)) unterstellt, wohl aber, daß sie dabei zu kurz greift, indem sie die subjektiven Tatsachen übersieht. Gegen diesen Einwand macht sich Hofmann zu ihrem Advokaten, indem er behauptet, daß es keine subjektiven Sachverhalte gibt, sondem nur verschiedene Gegebenheitsweisen desselben Sachverhaltes, einmal in der eigenen, subjektiven Perspektive (daß ich traurig bin), zweitens in der fremden (daß der da tmurig ist). Um den Irrtum dieser Wegdeutung zu erkennen, muß man nur scharf die Definitionen objektiver und subjektiver Tatsachen (entsprechend: untatsächlicher Sachverhalte) festhalten: Objektiv oder neutral ist eine Tatsache, wenn jeder sie aussagen kann, sofern er genug weiß und gut genug sprechen kann; subjektiv ist eine Tatsache, die höchstens einer im eigenen Namen aussagen kann. Wenn ich sage „Ich bin sehr, sehr traurig" und dann nachspreche, was darüber ein anderer sagen will, also etwa „Hermann Schmitz ist sehr, sehr traurig", nun aber davon absehend, daß ich Hermann Schmitz bin, hat die erste Aussage einen Überschuß über die zweite, denn jene geht mir— vorausgesetzt, es stimmt — wirklich sehr nahe, während die zweite mich ziemlich kalt läßt, obwohl in beiden Fällen das Selbe von dem Selben ausgesagt wird. Der Unterschied liegt also nicht am Inhalt (d. h. dem, was ausgesagt wird, und wovon), sondem an der Form der Tatsächlichkeit als erstens subjektive, zweitens neutrale. Dieser Unterschied kann nicht auf eine bloße Gegebenheitsweise abgewälzt werden. Die Besonderheit einer bloßen Gegebenheitsweise ist nämlich voll. ständig durch Aussage einer objektiven Tatsache darstellbar. Gesetzt z. B., daß mir auf Grund eines momentanen Sehfehlers der Laternenpfahl vor mir nur in verschwommener Weise gegeben ist, so ist diese Thtsache nicht weniger neutral und objektiv als die Tatsachen, daß der Pfahl anderen Leuten deutlich gegeben ist und nichts von seiner gewöhnlichen Bestimmtheit gebüßt hat. Dagegen ist der Uberschuß an Darstellung einer Tatsache durch meinen Ausspruch „Ich bin traurig" über die entsprechende Darstellungsleistung eines neutralisierten Ausspruches der Form „Hermann Schmitz in traurig" (ohne Rücksicht darauf, daß ich er bin) nicht von dieser Art, denn er läßt sich höchstens von mir aussagen, von anderen nur mittelbar durch Umschreibung, indem sie explizit oder implizit auf eine wirkliche oder fit:- gierte Aussage von mir Bezug nehmen, etwa in der Form: „die Tatsache, die Hermann Schmitz jetzt mit den Worten pp. darstellen könnte." Also gibt es sehr wohl subjektive Sachverhalte. Daraus folgt ober nicht, daß der Satz ganz falsch wäre, mit dem Hofmann ((10)) schließt: „Private Sachverhalte oder Tatsachen gibt es nicht." Es kommt darauf an, was man unter „privat" versteht. Wenn man Sachverhalte meint, die bloß einer kennen kann und zu deren Darstellung eine Privatsprache ä la Wittgenstein nötig wäre, gebe ich Hofmann recht (außer für extreme Ausnahmefälle wie die Entrückung des Apostels Paulus in den siebenten Himmel, wo er sah, was kein Auge je gesehen hat, und hörte, was kein Ohr je gehört hat), aber davon war hier nicht die Rede.

((68)) Meine Stellungnahme zur Kritik von KEIL kann kurz ausfallen, weil seine Einwände größtenteils schon in den bisherigen Erörterungen abgearbeitet worden sind, etwa in denen zu Kanitscheider und Schröter bezüglich des physikalischen Zeitverständnisses, in der Auseinandersetzung mit Hofmann ((67)) zur Subjektivität, bezüglich der Situationen (deren binnendiffuse Bedeutsamkeit Keil mit der unerschöpflichen Eigenschaftsfülle einzelner Dinge verwechselt, obwohl Einzelheit von Dingen nach meiner Lehre von der Explikation einzelner Bedeutungen aus Situationen abhängt) in ((59)) und ((64)), hinsichtlich des Obskurantismus-Verdachtes in Keils Punkt ((8)) in ((63)) und bezüglich des Vorwurfes ungenügender Genauigkeit meiner Methode phänomenologischer Revision im letzten Satz seiner Kritik in ((5)). Zu dem philosophiegeschichtlichen Geplänkel in ((2)) will ich jetzt nur sagen, daß ich niemals „Substanzen als dem Atomismus zugesetzte Parameter" ausgegeben habe; für das Nähere verweise ich auf mein Buch Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie S. 19-24. Zu ((3)): Mc Taggart's A-Reihe entspricht in meiner Terminologie nicht die Modalzeit schlechthin, sondern die modale Lagezeit. In zwei Hinsichten stimme ich Keil zu: bezüglich der Kraft ((5)) mit dem Hinweis, daß zu Ereignissen als kausalen Relata das eben genannte Buch S. 24-26 sowie Der Spielraum der Gegenwart S. 250 verglichen werden kann; ferner bezüglich des Vorwurfes eines Phänomenalismus in ((6)), der bei mir aber nicht bestreitender, sondern vergewissernder Phänomenalismus ist, ein Erbe Humes, des „Urphänomenologen" nach Punkt ((34)) meines Thesenpapiers. Der Rückgang auf die Phänomene endet oft (nicht immer) bei Er- fahrungen und Erlebnissen. Zu Unrecht wirft mir Keil aber vor, ich beschäftigte mich nicht genug „mit der Wirklichkeit, die da erfahren wird" ((6)); dagegen s. o. ((56)) zu Schröter.

((69)) STAUDACHER versieht das naturwissenschaftliche Weltbild mit globalem Erklärungsanspruch laut ((21)) meines Thesenpapiers mit dem Kürzel „ANW" (für: „anerkannte Version des naturwissenschaftlichen Weltbildes") und fragt bezüglich der von mir dort in ((11)) genannten, bei der Introjektion vergessenen und in der Naturwissenschaft entsprechend unzulänglich behandelten Massen der Lebenserfahrung: „Warum soll ANW nicht mit diesen Beschreibungen kompatibel sein?" In dieser Frage steckt ein Mißverständnis. Ich habe gegen kausale Erklärungen nichts einzuwenden, abgesehen von Vorbehalten wegen Verschwommenheit der verwendeten Kausalbegriffe. Eine denkbare Erklärung des menschlichen Erlebens und seiner Inhalte ist die physikalische, eine andere die theologische, daß Gott oder ein anderer übermenschlicher Geist alles so steuert, daß die vom Naturwissenschaftler erwarteten Ergebnisse ohne Wirksamkeit physischer Ursachen herauskommen. Beide Erklärungen stimmen im Ergebnis überein, aber die theologische hat einen Vorzug. Er ergibt sich aus meinem Nachweis (Der Spielraum der Gegenwart S. 32-37; Was ist Neue Phänomenologie? S. 112-131), daß Einzelheit Bedeutungen (Sachverhalte, Programme, Probleme) voraussetzt. Die Physik hat bedeutsame Situationen und daher auch Bedeutungen nicht in ihrer Abstraktionsbasis und erliegt daher dem Vorurteil, daß etwas, ohne im Licht einer vorgängigen Bedeutung als etwas zu stehen, einzeln sein könnte; Gott paßt eher in ein solches Licht. Von solchen Erwägungen ist aber in meinem Thesenpapier nicht die Rede. Da geht es nicht um die logische Möglichkeit, die Kompatibilität, sondern um die erkenntnistheoretische Berechtigung der von ANW beanspruchten Kausalerklärung. 1(70)) Sehr interessant ist Staudachers Einwand in ((8)) gegen Punkt ((26)) meines Thesenpapiers: „Viele Vertreter von ANW würden nämlich darauf insistieren, daß die unmittelbaren Gegenstände unserer Wahrnehmung die uns umgebenden Gegenstände in Raum und Zeit sind, an deren kausaler Vorgeschichte das Gehirn nicht den geringsten Anteil hat." Das verblüfft mich, denn ich hatte angenommen, daß in ANW mindestens für die spezifischen Sinnesqualitäten — die in der philosophy of rnind viel diskutierten Qualia — ein kausaler Anteil des Gehirns postuliert werde; von da könnte man mit Berkeley das Entsprechende für primäre Qualitäten erschließen. Wenn aber Anhänger von ANW glauben sollten, daß z.B. die häßliche graue Masse eines in Formalin gelegten Gehirns genau in der Weise, wie sie gesehen wird, ohne kausale Beteiligung des Gehirns des Zuschauers vorhanden sei, würde ich das Argument ((24)) meines Thesenpapiers etwas umformulieren. Ich würde, statt von der Menge aller satzförmig registrierbaren Beobachtungen, von der Menge aller sinngemäßen Verständnisse von Beobachtungssatzaussprüchen sprechen. Daß daran Gehirne kausal beteiligt sind, wird jeder Anhänger von ANW zugeben, und mehr hat der Naturwissenschaftler nicht zur Verfügung, um seine kausalen Erklärungen durch erfolgreiche Prognosen zu bewähren.

((71)) Unter ((5)) und ((6)) kommentiert Staudacher unpolemisch, aber zweifelnd meine Lehren von der Räumlichkeit der Gefühle und der Verschiedenheit zwischen Leib und Körper, wobei er aber nur meine frühen „Pionierarbeiten", nicht die späteren Nachbesserungen (zuletzt in Was ist Neue Phänomenologie?) berücksichtigt. Unstrittig ist zwischen uns, was er mir in ((5)) entgegenhält: „Denn aus dem Umstand, daß uns etwas als räumlich erscheint, folgt nicht, daß es tatsächlich räumlich ist." Ich verallgemeinere dieses Bedenken zu der These, daß wir von nichts, das uns als tatsächlich erscheint, mit übermomentaner Gewißheit wissen können, daß es tatsächlich so ist. Mein doppelt relativierter Phänomenbegriff ((41)) ist auf dieses Bedenken abgestimmt. Zu Staudachers Verblüffung über meine geringe Anteilnahme an den Identitätstheorien der neuesten philosophy of rnind (s. Anmerkung 8 seines Papiers) s. o. ((52)).

((72)) Staudacher endet mit Andeutung einer Motivation von ANW: „eine plausible Erklärung dafür zu finden, worum die Naturwissenschaften solch eine Erfolgsgeschichte aufweisen, ohne dabei Magie ins Spiel bringen zu Mässen." Das ist psychologisch sehr verständlich, aber deswegen erkenntnistheoretisch noch lange nicht legitim; übrigens gibt es andere, ebenso plausible Erklärungen, s. o. ((69)), wofür nicht einmal Gott bemüht werden müßte, sondern irgend ein übermenschliches Wesen genügen würde, das in mehr als 3 räumlichen Dimensionen existiert und ausreichend Intelligenz har, um transfinite Ordnungszahlen mühelos effektiv durchzuzählen.

((73)) Ein Mißverständnis möchte ich noch aufklären: Staudacher schreibt mir in ((2)) eine vergleichende Bewertung von Abstraktionsbasen zu, die mir fern liegt. Ich bewundere den antiken Atomismus und die modeme Physikfür ihre geschickt reduzierte Abstraktionsbasis wegen der großen damit erzielten Erfolge. Die Abstraktionsbasis ist unschuldig. Mein Angriff gilt der Ideologie, die daraus die Aufmarschstellung für den Anspruch auf umfassende kausale Erklärung der unwillkürlichen Lebenserfahrung macht.

((74)) GHIN wendet sich (mit einer miss- ja unverständlichen Bemerkung in ((8)): „Was Schmitz voraussetzt, ist die Möglichkeit, daß es ein eingeschlossenes, inneres oder privates Bewußtsein gibt, welches die Gesamtheit aller Bewußtseinsinhalte erzeugt") gegen meine in ((26)) vorgebrachte Kritik an der vermeintlichen Kausalität des Gehirns für die Inhalte menschlichen Erlebens. Daran ändert sich aber nichts durch das Veto, das er mir in ((10)) entgegenschleudert: „Es ist im Rahmen der Theorien der modernen Bewußtseinspsychologie nicht möglich, ein von der physischen und sozialen Umwelt abgetrenntes Gehirn als Ursache anzunehmen." Zunächst freue ich mich, diesem Satz entnehmen zu können, daß der radikale Konstruktivismus mit seinen Ansprüchen auf Autopoiesis des Gehirns (Maturana, v. Förster) in der modernen Bewußtseinspsychologie keine Chance mehr hat. Dann aber möchte ich zweierlei gegen das Veto vorbringen. Erstens ist das keine Errungenschaft der modernen Bewußtseinspsychologie. Neu ist höchstens die Betonung der sozialen Umwelt, aber die geht vielleicht schon etwas zu weit, denn es gibt auch einsame Zustände bewußten Erlebens, wenn z. B. ein Schwimmer draußen im Meer mit dem Ertrinken kämpft. Zweitens übersieht Ghin über der von ihm postulierten inhärenten Intersubjektivität des individuellen menschlichen Bewußtseins, für die er in ((9)) Thompson zum Zeugen aufruft, die Privatheit des materiellen Substrats. Jeder Mensch hat sein nur ihm eigenes Gehirn, seinen eigenen Körper. Wenn in meinem Körper z. B. ein Karzinom versteckt sein sollte, wäre noch lange nicht die ganze Menschheit krebskrank.

((75)) In ((101) konzediert Ghin meinen Ausführungen in ((26)): ,Es ist durchaus möglich, daß sich der Neuropsychologe zu einem bestimmten Zeitpunkt täuschen kann, wenn er etwa nicht existente Gehirne und Kollegen wahrnimmt." Falls er glaubt, damit die Tragweite meines Argumentes in ((26)) genügend berücksichtigt zu haben, irrt er. Die grundsätzliche Möglichkeit von Täuschungen besteht immer und in jeder Hinsicht. Mein Argument geht dahin, daß jemand, der das Gehirn für die Ursache des Erlebens hält, keinen vernünftigen, erkenntnistheoretisch haltbaren Grund zu der Vermutung hat, daß er sich nicht täuscht (daß vielmehr das phänomenale Gehirn das kausale hinlänglich getreu spiegelt).

((76)) Bei dem Versuch, auf die Kritik von LEIBER zu erwidern, rutsche ich sozusagen ab, da er selten eigene Behauptungen aufstellt, vielmehr Zensuren und Bewertungen verteilt, und oft nicht genau auf meinen Text eingeht, so daß ich teils nicht weiß, wie ich ihn zufrieden stellen soll, teils durch Richtigstellungen von weiterführender Auseinandersetzung abgehalten werde. Zuerst aber will ich hervorheben, was mir gefällt: erstens in ((11)) die Zulassung einer „Komplernentaritätsoder Kompensationsfunktion" der Phänomenologie für die Naturwissenschaft. In ((8)) vermutet Leiber bei mir allerdings stirnrunzelnd die Tendenz, phänomenologisches Besinnen als das gründlichere gegen naturwissenschaftliches Denken auszuspielen. Es kommt darauf an, was man „gründlich" nennt. Auf den Grund dessen, was man gelten lassen muß, geht gute Phänomenologie mehr als Naturwissenschaft. Sofern aber Gründlichkeit in Sorgfalt besteht, kann sie froh sein, wenn sie der Naturwissenschaft gleichkommt. Zweitens begrüße ich die Vermutung in ((1)), der Anspruch „der Naturwissenschaft" — o bitte doch nicht der Naturwissenschaft, sondern des naturwissenschaftlichen Weltbildes im Sinne von ((21))— solle „auf der Grundlage der Unterscheidung von ,objektiven und neutralen Tatsachen' (...) und den ,härteren subjektiven Tatsachen'" abgelehnt werden. So habe ich in meinem Thesenpapier nicht argumentiert, aber die Anregung ist brauchbar. In der Tat nimmt die Naturwissenschaft von den subjektiven Tatsachen keine Notiz. Das ist ihr nicht vorzuwerfen, solange sie sich auf ihr Gebiet beschränkt. Sobald jemand aber mit den Ansprüchen des naturwissenschaftlichen Weltbildes darüber hinausgeht, rächt sich die Verkennung in Gestalt der philosophisch naiven Abservierung der menschlichen Freiheit auf Grund eines angeblichen Determinismus im Gebiet der objektiven Tatsachen, s. o. ((4)).

((77)) Nun kurz zu den Richtigstellungen (ohne Vollständigkeit). Zu ((2)): Ich habe nie „ein Scheitern der Physik konstatieren" wollen. Zu ((6)): Ich habe nicht behauptet, daß es „so etwas wie die anerkannte Version des naturwissenschaftlichen Weltbildes gibt", sondern in ((2I)) nur, daß die Forschungsergebnisse zu einem solchen integriert werden sollen, für welches schon im voraus die vollmundigen Erklärungsansprüche erhoben werden. Zu ((1)): Leiber begeht denselben Fehler wie Hofmann, so. o. ((64)), in meiner These ((11)) das Wort „damals" zu übersehen. Zu ((7)): Meine These ((26)) versteht Leiber falsch wie Hofmann und zieht daraus den Schluß, ich mutete irgend welchen Naturforschem einen Solipsismus zu, dazu s. o. ((66)). Zu (18)). Die Einwände von Leiber gegen meine Thesen zur Physik der Zeit sind bereits in der Auseinandersetzung mit Kanitscheider und Schröter besprochen worden.

((78)) Noch drei Einzelpunkte: Leiber fragt zu ((16)) in ((2)), ob die Zirkel physikalischer Begriffsbildung durch den non-statement-view aufgehoben werden. Ich antworte: ja, sofem der view darin besteht, die Axiome physikalischer Theorien nicht als Sätze zu verstehen, sondern als Satzformen mit freien Variablen, wie in der abstrakten Mathematik, z. B. der Hilben'schen Geometrie mit ihren "impliziten Definitionen"; denn voneinander abhängige freie Variable in einer Satzfunktion erzeugen keinen Zirkel wie voneinander in der Bedeutung abhängige Namen. Die mengentheoretischen Konstrukte, die uns die „Strukturalisten" statt der Sätze und Formeln auf dem Papier als physikalische Theorien anbieten, interessieren mich viel wenigen Leibers Behauptung unter ((3)), Hume habe kein Band zwischen Ursache und Wirkung vermißt, sondern nur deren analytisch notwendige Verknüpfung bestritten, ist falsch; er hat seine Kausalskepsis auf beide Weisen begründet. Unter ((7)) fragt Leiber zu meiner These ((25)): „Aber wer erhebt in den Naturwissenschaften tatsächlich einen solchen Anspruch, naturwissenschaftlich zu erklären, welches die unbedingten Letztheilen unserer existentialen Verfaßtheiten und der von uns erfahrenen Welt sind?" Außer auf Schiemann, s. o. ((21)), verweise ich ihn auf folgenden Satz in dem Papier von Kanitscheider unter ((6)): „Die Wissenschaft intendiert in der Tat dos Verstehen aller Bereiche der Natur, elnschließlich der Subjektivität, der Individualität und dem Ich-Bewußtsein der Forschenden." (Er meint die Naturwissenschaft.) Beide sind Philosophen, vielleicht auch Naturwissenschaftler. Naturwissenschaftler sind gewiß die ideologisch militanten Gehirnforscher.

((79)) Die Kritik von SOENTGEN ist schärfer ausgefallen, als es die Sache verdient. Ich glaube nicht, daß bei genauer Prüfung ein nennenswerter Gegensatz der Überzeugungen bleibt. In ((1)) schreibt mir Soentgen eine „Frontstellung gegen die westliche Kultur überhaupt" zu. Eine ungeheuerliche Unterstellung! Ich habe oft betont, daß die Engen der europäischen Intellektualkultur durch die Freizügigkeit hauptsächlich im Kultursystem der Phantasie (Dichtung) kompensiert oder wenigstens abgefedert werden, und diese Ergänzung namentlich an der Geschichte der Liebe in Europa verfolgt. Gleich im folgenden Satz unterstellt Soentgen einen „Angriff auf die Naturwissenschaft"; dazu und zu den Fortführungen des Themas durch Soentgen wird genügen, was oben ((65)) zu Hofmann und an anderen Stellen dieser Replik gesagt ist. Die für Soentgen „überzeugendere Position" Husserls in dem von ihm unter ((9)) angeführten Zitat ist ganz die meine. Zu einer „prinzipiellen Entfremdung ,der' Naturwissenschaft von Phänomenen (oder der Lebenserfahrung)", wovon sich Soentgen in ((10)) durch mich nicht überzeugen lassen will, die ich so allgemein aber gar nicht behaupte, kann es freilich kommen, wenn die von der reduktionistischen Abschleifung übrig gelassenen, primären Sinnesqualitäten mit den zugesetzten Konstrukten so zu einer konstruierten Hinterwelt verschrnolzen werden, daß der introjizierte Rest der Lebenserfahrung auf den Status „mentaler Phänomene", die aus der Hinterwelt zu erklären sind, herabsinkt.

((80)) Soentgen wirft mir vor, daß ich die Bedeutung der Physik für die Naturwissenschaft überschätzte. Ich gebe ihm zu, daß die Abstraktionsbasis spezieller Naturwissenschaften wie Chemie, Biologie (einschließlich Medi. zin) und Geowissenschaften breiter als die der Physik ist, oder, wie ich in ((18)) sage, „scheint" — scheint, weit sich die größere Breite auf die ars invenicndi und die vorläufige Bestätigung bezieht, während sich Er die streng naturwissenschaftliche Bestätigung auch solche spezielleren Wissen. schatten auf die Messung mit nach Theorien der Physik konstruierten Ap. paraten zurückziehen. Insofern ist die Physik weniger die gebärende als die stillende Mutter der anderen Naturwissenschaften.

((81)) Mein Thesenpapier bereitet Soentgen Verständnisschwierigkeiten. Ihm ist nicht klar geworden, was ich „Abstraktionsbasis" nenne, doch scheint es sich ihm um das zu handeln, was Thomas Kuhn „Paradigma" nennt. Da er seine Unklarheit nicht präzisiert, weiß ich nicht, wie ich ihm helfen soll. Die Abstraktionsbasis entscheidet darüber, was aus der unwillkürlichen Le. benserfahrung so aufgenommen wird, daß es in Begriffe, Theorien und Bewertungen Eingang findet. Im Fall der Physik sind das die primären Sinnesqualitäten. Ein Paradigma nach Kuhn scheint mehr zu enthalten, nämliche eine ausbaufähige Rahmentheorie. Für die Frage, was die unwillkürliche Lebenserfahrung ist, verweise ich Soentgen auf die oben unter ((5)) gegehe. ne Definition. Daran dürfte sich ablesen lassen, daß seine Gleichsetzung der unmittelbaren mit der durchschnittlichen Lebenserfahrung ((9)) problematisch ist. Damit verliert sein Versuch, den Gegensatz zwischen Naturwissenschaft und Phänomenologie als konstruiert zu erweisen ((9)), die Stütze an der Feststellung in ((10)): „Über Alltagserfahrungen kann man sich (...) sowohl mit Natursvissenschaftlem als auch mit Phänomenologen unterhalten." Der Gegensatz, wie ich ihn sehe, besteht nicht in Konfrontation, die sich nur aus überzogenen Ansprüchen ergibt, sondern in Forschungsrichtungen, die von der Alltagserfahrung ausgehen und im einen Fall auf die Bereitstellung theoretischer und praktischer Voraussetzungen menschlicher Lebensführung durch sich bewährende Prognosen abzielen, im anderen Fall auf Herausschälung dessen, was man gelten lassen muß. Beide Richtungen können einander ergänzen.

((82)) REHBOCK teilt viele meiner phänomenologischen Überzeugungen und Bestrebungen, glaubt aber, zweierlei gegen mich in Schutz nehmen zu müßen: 1. den Anspruch der Naturwissenschaft auf „Erkenntnis der Realität" gegen dessen angebliche Verkürzung durch mich auf eine bloß „technisch-instrumentelle Bedeutung" ((2)); 2. das Recht einer Vernunftkritik durch „transzendentale Analysen" ((9)) gegen meine Bestimmung der Phänomenologie als empirische Wissenschaft. Zum ersten Desiderat habe ich schon genug gesagt in meinem Thesenpapier unter ((25)) und hier zu Hofmann unter ((65)) und zu Staudacher unter ((69)) und ((72)). Einer verkehrten Alternative unterwirft Rehbock meinen Begriff einer reduktionistischen Abstraktionsbasis in ((3)). Ich hatte gehofft, mit Punkt ((4)) des Thesenpapiers solchen Mißverständnissen vorgebeugt zu haben. Abstrakte, aber nicht reduktionistische Abstraktionsbasen sind in meinem Sinn solche, die impressive Situationen oder vielsagende Eindrücke in typisierter Form durchlassen. Eine impressive Situation ist Situation, weil irgend welche Bestände durch eine Bedeutsamkeit in dem unter ((64)) angegebenen Sinn ganzheitlich zusammengehalten werden, und impressiv, weil diese Bedeutsamkeit ganz (nicht nur stückweise) präsent ist. Der Versuchung, mich ausschließlich vormodemer Medizin anzuvertrauen ((4)), bin ich nicht ausgesetzt, s. o. ((63)). Was das zweite Desiderat angeht, vermisse ich eine genaue Bestimmung des Begriffes der Vernunft. Anscheinend läßt Rehbock die Vernunftkritik erst mit Platon beginnen, der „ein entschiedener Kritiker Demokrits" ((5)) gewesen sei; sie übersieht, daß schon Demolcrit ein entschiedener Kritiker Demokrits und Vernunftkritiker gewesen ist, vgl. 68 B 125 Diels/Kranz. Die negative Theologie und die Mystik, die nach Rehbock die Fackel der Vernunftkritik im Christentum hochgehalten haben, habe ich keineswegs in Punkt ((14)) meines Thesenpapiers dem mir von Rehbock in ((5)) unterstellten Verdacht aussetzen wollen, sie dienten der Unterjochung des Menschen unter die Macht Gottes. Sofern Vernunftkritik in gründlicher Selbstbesinnung auf die Voraussetzungen eigener Ansprüche besteht, ist sie selbstverständlich unerläßlicher Bestandteil der Philosophie, s. o. ((3)). Transzendentale Analysen lasse ich nur in Gestalt transzendentaler Argumente gelten, d. h. solcher, die performative Widersprüche aufdecken, d. h. solche, die nicht im ausgesagten Inhalt bestehen, sondern im Aussagen, weil der Sprecher sich durch Ansprüche, die er erhebt, das betreffende Behaupten selbst verbietet. Mein Einwand gegen die allgemeine Relativitätstheorie ((29)) ist ein solches Argument; ein analoges könnte man gegen Wissenschaftler vorbringen, die die Dauer der Person bestreiten. Weitere SinnIclärungen überlasse ich der phänomenologischen Revision als empirischer Methode, s. o. ((47)).

((83)) Rehbock bestreitet meine Unterscheidung subjektiver und objektiver Tatsachen in ((8)) mit untriftigen Gründen. Die Unfähigkeit der Mitmenschen, die für jemand subjektiven Tatsachen auszusagen, steht ihrem Wissen darum und der Mitteilbarkeit dieser Tatsachen nicht im Wege, s. o. 1(67)) gegen Hofmann. Solches Wissenkönnen beruht auf antagonistischer wechselseitiger Einleibung, vgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 39 f. Dabei sind in der Tat die Innen- und Außenperspektiven „untrennbar miteinander verschränkt" gemäß Rehbock ((10)), aber an der Subjektivität für jemand subjektiver Tatsachen ändert das nichts.

((84)) BLUME ((2)) hat meinen Text mißverstehend so gelesen, als hätte ich etwas gegen eine reduktionistische Abstraktionsbasis und wollte deshalb die moderne Naturwissenschaft abqualifizieren, dagegen s. o. ((73)). Ich wehre mich nur gegen Grenzüberschreitung vom methodischen Reduktionismus zum umfassenden kausalen Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes laut ((21))-((23)) meines Thesenpapiers. Daran aber hält die Majorität der Neurowissenschaftler immer noch fest, wie Blume unter ((3)) zugibt, und so lange gilt mein im Thesenpapier unter ((24)) und ((26)) begründetes Verdikt in der unter ((65)) gegen Hofmann präzisierten Fassung auch gegen den von Blume der Phänomenologie nahe gerückten Damasio. Ihre Aufstellung von Parallelen Damasio — Schmitz ist dankenswert, enthält aber kein neurowissenschaftliches Resultat; denn Beobachtungen am Selbstbewußtsein bei neurologischen Erkrankungen könnte man auch machen, wenn man nicht wüßte, daß sie neurologisch sind. Es ist immer erfreulich, wenn neurowissenschaftliche und phänomenologische Ergebnisse konvergieren; Gelegenheiten könnte es in der Gedächtnisforschung geben (vgl. von mir Begriffene Erfahrung S. 99-112), vielleicht auch bei Spiegelneuronen bezüglich leiblicher Kommunikation (Was ist Neue Phänomenologie? S. 34-43). Aber solche Analogien bleiben vage: teils werden sie übertönt durch die Hybris des neuropsychologischen Erklärungsanspruches, 5.0. ((69)) und ((72)), teils berühren sie nicht die Immunität der Phänomenologie, deren Ergebnisse mit jedem neurowissenschaftlichen Ergebnis vereinbar sind. Gar nicht kann ich mich dem Vorschlag zur Güte anschließen, mit dem Blume ihren Aufsatz schließt: die Phänomenologie solle die qualitative Charakteristik des Mentalen übernehmen und der Neurowissenschaft die kausale Erklärung überlassen. Dazu genügt das zu Hofmann und Staudacher Ausgeführte.

((85)) BÜRGER erhebt keine Einwände gegen mein Thesenpapier, sondern sucht nach möglichen Erträgen für die Medizin. Seine „zentrale Frage" lautet: „Inwieweit kann die Phänomenologie zu einer fundierten Vermittlung zwischen den mit Methoden der Naturwissenschaft beschreibbaren Konstellationen und der phänomenalen Wirklichkeit so beitragen, daß sie als wissenschaftlich fundiertes Werkzeug für die Medizin wirken kann?" Für die Antwort kommt es auf das Verhältnis von Situationen und Konstellationen an. Konstellationen, Vernetzungen einzelner Faktoren, werden durch menschliche Intelligenz auf der Grundlage satzförmiger Rede aus Situationen geschöpft und, indem sie im ärztlichen Handeln auf Patienten angewendet werden, in neu sich bildende Situationen zurückgeführt. An beiden Stellen, beim Schöpfen und beim Zurückführen, könnte die konstellationistisch-naturwissenschaftliche Medizin von der Neuen Phänomenologie profitieren.

((86)) Was das Schöpfen angeht, wird die Unterscheidung analytischer und hermeneutischer Intelligenz wichtig. Analytische Intelligenz, mit dem Muster der Problemlösung, expliziert prosaisch, indem aus der ganzheitlich- binnendiffusen Bedeutsamkeit einzelne Sachverhalte als Tatsachen oder (bei praktischen Problemen) einzelne Programme als geltende herausgeholt und vemetzt werden, der ganze Rest der Situation aber als etwas, worauf es nicht ankommt, weggeworfen wird. Hermeneutische Intelligenz expliziert poetisch, wie der Dichter mit einer geschickten Sparsamkeit des Redens, die ein nicht zu dichtes Netz von Explikatcn knüpft, so daß die ganzheitlich- binnendiffuse Bedeutsamkeit unversehrt hindurchscheinen und berücksich. tigt werden kann. Durch die Figur des Dichters soll man sich nicht zu dem Vorurteil verführen lassen, so etwas sei nicht realistisch. Ganz im Gegenteil ist hermeneutische Intelligenz unentbehrlich für den geschickten Menschenbehandler, sei er nun Demagoge oder z. B. tüchtiger Arzt und Psychotherapeut. Alles Wollen ist in der Hauptsache hermeneutische Intelligenz des Menschen beim Sichzurechtfinden in der eigenen persönlichen Situation, mit dem Ergebnis des Wissens, was man will. Die Induktion des klugen Arztes in Gestalt seiner persönlichen ärztlichen Erfahrung ist hermeneutische Intelligenz. Neuerdings sucht man ihr durch die zahlenmäßig und an Exaktheit überlegene statistische Induktion den Rang abzulaufen, etwa durch randomisierte Doppelblindstudien über die Wirkung von Therapeutika. Ohne den Wert einer solchen Statistik anzuzweifeln, habe ich auf eine Grenze hingewiesen, die der Ausgleich individueller Besonderheiten durch zufällige Mischung (Randomisierung) an den Situationen findet: Die Anatomie und Physiologie aller Menschenkörper ist so ähnlich, daß man hoffen kann, den Unterschied durch zufällige Mischung in einer hinreichend großen Stichprobe auszugleichen; dagegen sind die Situationen, die in der zuständlichen persönlichen Situation ((38)) eines Menschen stecken und in denen sie steckt, schon von Mensch zu Mensch und erst recht von Population zu Population so verschieden, daß die Ermittlung eines Durchschnitts durch Statistik nur bei viel Mut aussichtsreich scheinen kann, und doch hängt davon viel für die therapeutische Wirkung ab. Ärztliche Erfahrung als Fähigkeit zum Erfassen und Speichern impressiver (auch zuständlichcr) Situationen (vielsagender Eindrücke) wird daher zur Ergänzung statistischen Wissens unentbehrlich sein. Das wichtigste Hilfsmittel ihrer Schulung ist die Einübung typisierenden Denkens, vgl. System der Philosophie Band IV S. 247-258: Typen als Schlüssel zu Eindrücken. Hierzu paßt die Frage Burgers in ((7)), ob nicht doch die von mir abgelehnte Rückkehr zum archaischen Eindrucksdenken für die Medizin ergiebig sein könnte. Für die großen, universell konzipierten Systeme der archaischen, z. B. chinesischen und indischen Medizin möchte ich das eher bezweifeln, weil die Auswahl weniger Standard- Typen ein zu starres Ganzes ergibt; im engeren Rahmen kann dagegen die systematische Abstraktion von vielsagenden Eindrücken praktischen Nutzen bringen, wofür ich als mögliches Beispiel meine Reaktivierung der Kretschmer'schen Typenlehre zur Charakteristik von Bindungsformen des vitalen Antriebs in der persönlichen leiblichen Disposition (System der Phi-losophie Band IV S. 331-343; Der Spielraum der Gegenwart S. 112 f.) anführe, übrigens nicht nur für die Beurteilung von Patienten, sondem auch für die spezifische Qualifikation von Ärzten und Pflegern: Wer ist der rechte Mann/die rechte Frau am rechten Platz?

((87)) Vom Schöpfen ärztlicher Klugheit aus Situationen komme ich zur Zurückführung der geschöpften Konstellationen bei der Anwendung natur wissenschaftlichen Wissens auf den Patienten. Grundlegend ist dafür die Einsicht, daß Kontakte unter Menschen immer leibliche Kommunikation vom Typ der Einleibung in gemeinsamen Situationen sind, und dann, wenn der andere (die anderen) gegenüber ist (sind), vom Typ der antagonistischen Einleibung (im Medium der Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charaktere). Wichtigstes Werkzeug der Passung, nach der sich Burger in ((10)) erkundigt, ist dabei die Schwingungsfähigkeit der leiblich-personalen Fassung. (Näheres zu diesem Thema: Was ist Neue Phänomenologie7 S.

((88)) Von großer Bedeutung für den Kontakt des Arztes mit dem Patienten ist die Bahnung sprachlicher Verständigung, wobei es in diesem Zusammenhang in erster Linie um das leibliche Befinden geht. Ich bin nicht der Meinung, daß die Patienten, um mit dem Arzt eine gemeinsame Sprache zu finden, in die Terminologie der Neuen Phänomenologie über leibliche Räumlichkeit, leibliche Dynamik und leibliche Kommunikation eingeführt werden müßten. Wenn aber die Arzte sich dieser begrifflichen und terminologischen Erschließung des Gegenstandsgebietes des am eigenen Leib Spürbaren annähmen, hätten sie es leichter, auf die oft unklaren Andeutungen der Patienten verständnisvoll einzugehen und diese so zu führen, daß die Patienten sich in ihrem leiblichen Befinden genauer zu orientieren lernten. Das wäre auch deswegen von Vorteil, weil der Verstiegenheit entgegengewitkt werden könnte, daß die Menschen immer mehr ihren spürbaren Leib übersehen und ihren Körper nach angelernten Schemata der Physik und Chemie beobachten und beurteilen - u. a, weil sie oft zum Arzt gehen und in den Medien vielerlei über Resultate naturwissenschaftlicher Medizin hören oder sehen.

((89)) Speziellere Beiträge der Neuen Phänomenologie zur somatischen Medizin betreffen u. a. den Schmerz (Was ist Neue Phänomenologie? S. 222-226), Spannung und Entspannung als therapeutische Techniken im Zusammenhang mit Leibinselbildung (System der Philosophie Band II Teil 1 S. 151-169, 274-281), Parästhesien bei Diabetes und orthopädische Probleme im Zusammenhang mit abgespaltenen Leibesinseln. Ich habe einmal die Hypothese aufgestellt, daß es bei Schleudertraumen weniger um die Heilung körperlicher Schäden geht, als um die Reintegration einer durch privative Engung des Leibes abgespaltenen Leibesinsel in das motorische Körperschema. Die Orthopädie könnte für die Neue Phänomenologie fruchtbar werden (Rückenprobleme). Noch mehr Zugänge dürfte diese aber zu Verständnis und Behandlung psychischer Krankheiten haben. Was ich über Depression und Schizophrenie sagen kann, steht in System der Philosophie Band IV 5. 322-331 bzw. 415-473 und wird, soweit letztem betroffen ist, in dem Buch Schizophrenie - eine philosophische Krankheit? der Nervenärztin A. Moldzio (Würzburg 2004) der therapeutischen Praxis zugefühn über psychotherapeutisch behandelbare Störungen in phänomenologische; Perspektive findet man Entsprechendes in dem Buch von mir, Gabriele Marx und Andrea Moldzio Begriffene Erfahrung. Beiträge zur ct, ntireduk. zionistischen Phänomenologie (Rostock 2002) sowie in meinem Buch Leib und Gefühl (mit dem von mir nicht zu verantwortenden Untertitel: Materialien zu einer philosophischen Therapcutik), hg. v. H. Gausebeck und G. Risch, 2. Auflage Paderborn 1992.

((90)) Manchen Kritikern ist an meinem Thesenpapier ein „messianischer Zug" von „Heilserwartungen an die Philosophie", der mir mit Husserl gemeinsam sei und „zu einer Art von Religions- oder Meditationsersatz aufzusteigen" scheine, aufgefallen, so Wiegerling ((6)), Pieper ((2)), Leiber ((12)). Der Polemiker Lembeck macht daraus „kulturtherapeutische Scharlatanerie" ((5)) und „ominöse Heilsversprechungen" ((7)). Diesen Fehdehandschuh will ich zum Schluß aufgreifen.

((91)) Die Philosophie mag nicht mehr zur Führung der Wissenschaften taugen (außer als magistra modestiae), aber sie ist berufen, Führerin des menschlichen Lebens zu sein, weil Menschen durch ihr Sichbesinnen auf ihr Sichfinden in ihrer Umgebung exemplarisch für das Selbst- und Weltverständnis anderer Menschen werden können; das ist ihr maßgeblicher Ertrag für die Kultur. Die westliche Zivilisation hat sich verrannt in die Sackgasse steriler Betriebsamkeit und die Sklaverei des Gezogenwerdens durch undurchsichtigen technischen Fortschritt ohne überlegene Besonnenheit des Umgangs mit ihm. Die Menschen haben meist keine großen Zwecke mehr, für die es sich lohnt, wie Antigone das eigene Leben aufzuwenden; Menschen sind aber wichtig als Medien, an denen ein Schicksal sich abzeichnet, in das sie mit Tun und Leiden sich verstricken, nicht dadurch, daß sie sich selber (Kant: ,,als ZWeck") wichtig nehmen. Was zu tun wäre, um aus dieser agitierten Lähmung herauszukommen, habe ich, soweit es politisch ist, in meinem Buch Adolf Hitler in der Geschichte ausgeführt. Die Aufgabe ist aber nicht nur politisch. Sie führt darauf, den Lebenswillen in der Gegenwart zu verankern, so daß die Bereitschaft, zu leben, nicht mehr der Hoffnung auf etwas, das noch kommen soll, bedarf. Allerdings ist die Gegenwart kein stabiler Ankerplatz, sondern ein Spielraum zwischen der primitiven Gegenwart des plötzlichen Betroffenseins und ihrer Entfaltung in die Dimensionen wacher personaler Orientierung zur Welt als dem Feld der freien Einzelheit. In der Tiefe dieses Spielraums haben sich die Menschen noch nicht zurechtgefunden, da sie wie die Griechen „in the grip of the past" (Titel eines Buches von B.A. van Groningen, Leiden 1953) oder wie Juden und Christen aus der Zukunft über die Gegenwart hinweggelebt haben. Mir geht es darum, sie mit der Tiefe dieses Spielraums vertraut zu machen, damit sie lernen, gegenwärtiger zu leben.

((92)) Aber ist es nicht phantastisch zu glauben, die Menschen würden sich heute noch auf den Weg ihres Lebens von den Philosophen führen lassen? Selbstverständlich. Wenn ich je etwas anderes geglaubt hätte, würde mich die Erfahrung eines langen Lebens belehrt haben. Wie sollte ich, der an vier bis fünf Fronten gleichzeitig mit dem Zeitgeist um Ehrlichkeit kämpft, darauf hoffen können, die kompakte Majorität meiner Zeitgenossen zu bekehren? Wenn einige die Binde liebgewordener Vorurteile um die Augen ablegen, andere wenigstens daran rücken, habe ich genug Grund zur Freude. Ich werbe nicht. Aber ich bemühe mich, Vorsorge zu schaffen für den Fall, daß eine Besinnungspause eintritt, die den Epigonalisrnus und flachen progressiven Rationalismus unterbricht, sei es durch spontanes Stutzen, sei es durch den Bedarf gewandelter Sensibilität auf Grund einer Umstimmung der kollektiv dominanten leiblichen Disposition. Für diesen Fall will ich eine Sprache vorbereiten, die den Menschen helfen soll, sich besser in ihrer unwillkürlichen Lebenserfahrung zurechtzufinden.