Einleitung

Jede Rede von einer Wende oder einem „Turn" klingt so ähnlich wie die Ankündigung des Weltuntergangs zum nächst möglichen Zeitpunkt, der bei Verzug einfach weiter verschoben werden kann. Derartige Thesen von bevorstehenden Umbrüchen sind daher nur minder interessant und lassen sich schlecht falsifizieren. Doch wenn die Wende bereits vollzogen ist und man nur noch nichts mitbekommen hat, dann wird man schon hellhöriger. Hat die topische Wende also schon stattgefunden? Doch der Reihe nach.

Was ist überhaupt mit einer Wende gemeint?

Immer wieder diagnostiziert und spricht man von „Turns" als Wenden, wie den berühmten „[linguistic turn|http://de.wikipedia.org/wiki/Linguistic_turn]" im letzten Jahrhundert. Wenden bezeichnen grundlegende Änderungen in der Ausrichtung der Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften. Eben als solche werden sie diagnostiziert und beschrieben, und es fallen einige Namen: Interpretive Turn, Performative Turn, Reflexive/ Literary Turn, Postcolonial Turn, Translation Turn, Iconic Turn, Spatial Turn etc.\[1\] Bei so vielen Turns stellt sich die Frage, welche davon tatsächlich stattgefunden haben. Denn hätten sie alle stattgefunden, dann wären wir in den letzten Jahren ständig tief greifenden Veränderungen unterlegen, denn nur solche darf man zu Recht als Wende bezeichnen. Doch auch wenn die letzten Jahrzehnte der Geisteswissenschaften bewegend waren, so waren sie doch nicht durchgeschüttelt von so vielen aufeinander folgenden Wenden.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass in unseren postmodern funktional ausdifferenzierten Gesellschaft viele verschiedene wissenschaftlichen Disziplinen nebeneinander existieren, ohne die Veränderung der Nachbardisziplin auch nur zu kennen, geschweige denn zu verstehen. So ist die Vielzahl der genannten Turns vielleicht auch eher verständlich.
Dennoch stellt sich die Frage, ob man berechtigt von einem Turn sprechen darf, wenn er sich abgekoppelt nur in einer einzigen Fachdisziplin zeigt. Von einer Wende im engeren Sinne sollte doch nur dann die Rede sein, wenn damit ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird, der sich auf eine grundlegend veränderte Ausrichtung vieler verschiedener Fachdisziplinen zugleich bezieht. Erst wenn eine disziplinübergreifende Richtungsänderung der wissenschaftlichen Forschung diagnostiziert werden kann, sollte man von eine Wende sprechen, die den Namen verdient. Also stellt sich die Frage, was war der letzte große tatsächlich stattegefundene Turn, und was kommt als nächstes?

Was war der letzte große Turn?

Der „linguistic turn" mit seiner Hinwendung zur Linguistik und Semiotik kann als letzter großer Turn bezeichnet werden, auch wenn er selbst nur in Geistes- und Kulturwissenschaften stattgefunden hat. Vorbereitet durch die von Kant schon viel früher ausgelöste kopernikanische Wende in der Philosophie, bewirkte der "lingustic turn", dass Sprache nicht mehr nur als transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit verstanden wird, sondern als unhintergehbare Bedingung des Denkens. Eine Wirklichkeit jenseits der Sprache wird als nicht existent oder zumindest unerreichbar angesehen. Die Grenzen und Strukturen der Sprache wurden also selbst zum Thema und dominierten die wissenschaftliche Forschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Naturwissenschaften blieben davon eher unbeeindruckt, und konnten mit dem „linguistic turn" naturgemäß wenig anfangen.

Was ist der nächste Turn?

Der nächste Turn, der den Namen verdient, muss mindestens eine ebenso große Reichweite haben, wie der „linguistic turn". Als Kandidat bietet sich der „spatial turn" an, aus folgenden Gründen:

Von dem "spatial turn" zur "topischen Wende"

Es wird folgende These vertreten: Die Wende hinter dem „spatial turn" ist nur halb vollzogen, wenn man beim „spatial turn" stecken bleibt. Für einen vollständigen Vollzug des Turns wäre eher der Begriff „topische Wende" angebracht, da der Topos als Ort bzw. Feld den Raum in wesentlichen Eigenschaften ergänzt.
Die „topische Wende" soll Bezug nehmen auf eine ebenso bereits stattgefunden Wende, allerdings nicht in unserem Kulturkreis. Ebenso wie schon früh mit Kant im Westen die kopernikanische Wende in der Philosophie vollzogen wurde, die zu dem „linguistic turn" führte, so ist in der japanischen Philosophie schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zweite kopernikanische Wende in Gestalt einer „topischen" oder „topologischen" Wende vollzogen worden. Sie blieb bisher nur für den Westen so gut wie unentdeckt, was nichts an ihrer Tragweite und Tiefe ändert.
Die „topische Wende" führt zu einen neuen Verständnis nicht nur vom Raum, und geht somit über den „spatial turn" hinaus. Auch grundlegendere Denkstrukturen wie unsere westliche Logik sind betroffen. Mit der topischen Wende kommt es zur folgenden begrifflichen Gegenüberstellung:

Diese Gegenüberstellung der Begriffe soll einen ersten Eindruck geben, wie umfassend die „topische Wende" sein wird. Man könnten den „spatial turn" als ersten Schritt in die Richtung der „topischen Wende" werten, und gespannt sein, inwieweit der dahinter liegende Wandel damit vollständig vollzogen werden kann.


\[1\] Bachmann-Medick, Doris (2006): Clutural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg.
\[2\] [Einstein, Albert (1960): Vorwort von Albert Einstein. In: Jammer, Max (1960): Das Problem des Raumes. Darmstadt.|http://www.jawiki.de/wiki/pages/viewpage.action?pageId=986]