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Einleitung

Jede Rede von einer Wende oder einem „Turn" klingt so ähnlich wie die Ankündigung des Weltuntergangs zum nächst möglichen Zeitpunkt, der bei Verzug einfach weiter verschoben werden kann. Derartige Thesen von bevorstehenden Umbrüchen sind daher nur minder interessant und lassen sich schlecht falsifizieren. Doch wenn die Wende bereits vollzogen ist und man nur noch nichts mitbekommen hat, dann wird man schon hellhöriger. Hat die topische Wende also schon stattgefunden? Doch der Reihe nach.

Was ist überhaupt mit einer Wende gemeint?

Immer wieder diagnostiziert und spricht man von „Turns" als Wenden, wie den berühmten „linguistic turn" im letzten Jahrhundert. Wenden bezeichnen grundlegende Änderungen in der Ausrichtung der Wissenschaften, insbesondere der Geisteswissenschaften. Eben als solche werden sie diagnostiziert und beschrieben, und es fallen einige Namen: Interpretive Turn, Performative Turn, Reflexive/ Literary Turn, Postcolonial Turn, Translation Turn, Iconic Turn, Spatial Turn etc.[1] Bei so vielen Turns stellt sich die Frage, welche davon tatsächlich stattgefunden haben. Denn hätten sie alle stattgefunden, dann wären wir in den letzten Jahren ständig tief greifenden Veränderungen unterlegen, denn nur solche darf man zu Recht als Wende bezeichnen. Doch auch wenn die letzten Jahrzehnte der Geisteswissenschaften bewegend waren, so waren sie doch nicht durchgeschüttelt von so vielen aufeinander folgenden Wenden.
Vielmehr ist davon auszugehen, dass in unseren postmodern funktional ausdifferenzierten Gesellschaft viele verschiedene wissenschaftlichen Disziplinen nebeneinander existieren, ohne die Veränderung der Nachbardisziplin auch nur zu kennen, geschweige denn zu verstehen. So ist die Vielzahl der genannten Turns vielleicht auch eher verständlich.
Dennoch stellt sich die Frage, ob man berechtigt von einem Turn sprechen darf, wenn er sich abgekoppelt nur in einer einzigen Fachdisziplin zeigt. Von einer Wende im engeren Sinne sollte doch nur dann die Rede sein, wenn damit ein Paradigmenwechsel eingeleitet wird, der sich auf eine grundlegend veränderte Ausrichtung vieler verschiedener Fachdisziplinen zugleich bezieht. Erst wenn eine disziplinübergreifende Richtungsänderung der wissenschaftlichen Forschung diagnostiziert werden kann, sollte man von eine Wende sprechen, die den Namen verdient. Also stellt sich die Frage, was war der letzte große tatsächlich stattgefundene Turn, und was kommt als nächstes?

Was war der letzte große Turn?

Der „linguistic turn" mit seiner Hinwendung zur Linguistik und Semiotik kann als letzter großer Turn bezeichnet werden, auch wenn er selbst nur in Geistes- und Kulturwissenschaften stattgefunden hat. Vorbereitet durch die von Kant schon viel früher ausgelöste kopernikanische Wende in der Philosophie, bewirkte der "lingustic turn", dass Sprache nicht mehr nur als transparentes Medium zur Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit verstanden wird, sondern als unhintergehbare Bedingung des Denkens. Eine Wirklichkeit jenseits der Sprache wird als nicht existent oder zumindest unerreichbar angesehen. Die Grenzen und Strukturen der Sprache wurden also selbst zum Thema und dominierten die wissenschaftliche Forschung in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Die Naturwissenschaften blieben davon eher unbeeindruckt, und konnten mit dem „linguistic turn" naturgemäß wenig anfangen.

Was ist der nächste Turn?

Der nächste Turn, der den Namen verdient, muss mindestens eine ebenso große Reichweite haben, wie der „linguistic turn". Als Kandidat bietet sich der „spatial turn" an, aus folgenden Gründen:

  • Der „spatial turn" hat bereits stattgefunden. So hat sich seit den 1980er Jahren in Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften ein neues Paradigma ausgebildet, das als kopernikanische Wende im Raumdenken bezeichnet werden kann. Der Raum wird nicht mehr - wie schon von Einstein bemängelt[2] - als Behälter, Zimmer oder Schachtel verstanden, sondern als Resultat oder Effekt eines Prozesses. Je nachdem, welchen Raum man betrachtet, entwickelt sich daher der Blick auf bisher völlig vernachlässigte Prozesse, wie den der Entstehung eines sozialen Raumes.

  • Der „spatial turn" ist ebenso umfassend wie der „linguistic turn", ja geht sogar darüber hinaus. Hat der „lingustic turn" die Naturwissenschaften gar nicht erreichen können, so bezeichnet der „spatial turn" ein von Einstein schon ausgelöste Neubestimmung des Raumes in der Physik. Der „spatial turn" hat auch ganz einfach deshalb eine größere Breitenwirkung, da das Raumerlebnis noch vorsprachlich ist und daher unvermittelter wahrgenommen werden kann. Aus den genannten Gründen spricht einiges dafür, dass der „spatial turn" der nächste große Turn nach dem „linguistic turn" ist. Damit könnte man diesen Aufsatz beenden.

Von dem "spatial turn" zur "topologischen Wende"

Die Wende hinter dem „spatial turn" ist nur halb vollzogen, wenn man beim „spatial turn" stecken bleibt. Für einen vollständigen Vollzug des Turns wäre eher der Begriff „topische Wende" angebracht, da der Topos als Ort bzw. Feld den Raum in wesentlichen Eigenschaften ergänzt.
Die „topische Wende" bzw. "topologische Wende" soll Bezug nehmen auf eine ebenso bereits stattgefunden Wende, allerdings nicht in unserem Kulturkreis. Ebenso wie schon früh mit Kant im Westen die kopernikanische Wende in der Philosophie vollzogen wurde, die zu dem „linguistic turn" führte, so ist in der japanischen Philosophie schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine zweite kopernikanische Wende in Gestalt einer „topischen" oder „topologischen" Wende vollzogen worden. Sie blieb bisher nur für den Westen so gut wie unentdeckt, was nichts an ihrer Tragweite und Tiefe ändert.
Die „topische Wende" führt zu einen neuen Verständnis nicht nur vom Raum, und geht somit über den „spatial turn" hinaus. Auch grundlegendere Denkstrukturen wie unsere westliche Logik sind betroffen. Mit der topischen Wende kommt es zur folgenden begrifflichen Gegenüberstellung:

  • Subjekt- und Prädikatlogik
  • Polylogik – Topologik
  • Subjektinformation und Feldinformation
  • Egozentrisches Selbst – Topozentrisches Selbst

Diese Gegenüberstellung der Begriffe soll einen ersten Eindruck geben, wie umfassend die „topische Wende" sein wird. Man könnten den „spatial turn" als ersten Schritt in die Richtung der „topischen Wende" werten, und gespannt sein, inwieweit der dahinter liegende Wandel damit vollständig vollzogen werden kann.


[1] Bachmann-Medick, Doris (2006): Clutural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg.
[2] Einstein, Albert (1960): Vorwort von Albert Einstein. In: Jammer, Max (1960): Das Problem des Raumes. Darmstadt.

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