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  • Phänomenologie als Anwalt der unwillkürlichen Lebenserfahrung

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((27)) An dem Beitrag von WESTMEYER habe ich nichts auszusetzen, zumal auch er nichts gegen mich einwendet, sondem mit elegantem Schwung die Neue Phänomenologie in den Armen des sozialen Konstruktivismus auffängt. Die zugehörige Skepsis würde ich allerdings nicht wie er ontologisch so ausdrücken wollen: „Etwas ist nicht wirklich, sondern etwasgilt als wirklich." Ich würde lieber sagen: Die Tatsächlichkeit objektiver (und vieler subjektiver) Sachverhalte kann nicht endgültig (für immer und alle), sondern nur provisorisch (durch „Evidenz im Augenblick", Buchtitel von Manfred Sommer) gesichert werden. Dem sozialen Konstruktivismus entspricht in meiner Terminologie der erkenntnistheoretische Explikationismus, darüber zuletzt: Der Spielraum der Gegenwart S. 167-174. Gemäß dem erkenntnistheoretischen Explikationismus besteht Erkenntnis nicht in richtiger Beschreibung von Sachen, sondern in der Explikation von Tatsachen aus der Bedeutsamkeit von Situationen. Diese Gebundenheit des Erkennens an einen kontingenten Hof der Bedeutsamkeit schließt übrigens die relativistische Gestalt der Skepsis vielmehr aus statt ein, weil es für die Wahrheit einer Behauptung lediglich auf die Entscheidung zwischen kontradiktorischen Annahmen ankommt, die immer demselben „Hof' entnommen sind, so daß dessen Unterschied gegen andere solche Höfe für die Wahrheit nicht ins Gewicht fällt Allerdings ist das immer eine Wahrheit in beschränkter Perspektive, nicht in der allumfassenden eines imaginären Alleskenners. Diese Beschränktheit läßt sich potentiell ad infinitum (wenn auch nicht vollständig) ausgleichen durch die Anpassungsund Erweiterungsfähigkeit solcher Höfe der Bedeutsamkeit. Meine von Westmeyer unter ((3)) angeführte soziale Relativierung der Halluzinationen, wofür die Auditionen des Propheten Mohammed ein gutes Beispiel sein könnten, ist eine Anwendung des erkenntnistheoretischen Explikationismus.((28)) MRAS beginnt ihre Kritik mit einer sehr verständnisvollen Einführung; was sie unter ((2)) schreibt, ist eine korrekte Interpretation meiner Bemühungen. Ihre folgende Kritik ist mir nicht durchsichtig geworden, zumal sie mir mit eigenwilligen Umformulierungen Absichten (z. B. in ((5)): „die Ansicht entstehen zu lassen, daß wir immer mehr das verlieren, was unseren Überzeugungen Halt gibt") unterstellt, die mir fern liegen. Eine sehr umständliche Interpretation ihres Textes wäre mir nötig, um bloße Mißverständnisse von diskutierbaren Vorhaltungen zu trennen. Ich bitte, mir zu verzeihen, daß ich diese dann unvermeidlich breiten Ausführungen der Knappheit des Druckpapiers opfere. Ich begnüge mich hier mit zwei Hinweisen: 1. Man möge den kausalen Erklärungsanspruch des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf reduktionistischer Grundlage von dem methodischen Reduktionismus der Naturwissenschaft, den ich begrüße, immer scharf unterscheiden. 2. Daß sich Phänomene herausstellen, die unseren Überzeugungen Halt geben können, ist ein kontingentes (nicht von vorn herein mit Sicherheit zu erwartendes) Faktum, liefert aber keineswegs „einen Standpunkt zur Rechtfertigung dieser nicht revidierbaren Überzeugungen", den nach Mras ((II)) ,Hermann Schmitz (...) zu entwickeln scheint", denn prinzipiell nicht revidierbare Überzeugungen kenne ich nicht.

2. Phänomenologen

((29)) LEMBECK hält mit ausladender Rhetorik eine Mahn- und Strafpredigt an einen leeren Stuhl, auf dem ich nicht sitze. Er verteidigt gegen mich „die Idee der Naturwissenschaft" ((2)). Gegen die Idee habe ich nichts, nur gegen ihre Ideologisierung zum naturwissenschaftlichen Weltbild in dem von mir unter ((21)) angegebenen Sinn, von dem Lembeck keine Kenntnis nimmt. Die Naturwissenschaft an sich ist unschuldig; die „Schurken im Stück" sind die Philosophen einschließlich der Naturwissenschaftler, die sich leichtfertig auf das Eis der Philosophie begeben haben. Ihre Aufgabe wäre gewesen, die von den Errungenschaften der Naturwissenschaft geweckte Hybris durch umsichtige Selbstbesinnung abzufangen; statt dessen haben sie sich zu Vorreitern menschlicher Welt- und Selbstbemächtigung gemacht. Völlig verdreht werden meine Bedenken, wenn Lembeck mir in ((3)) vorwirft, Konstellationen zu denunzieren. Die möglichst weitgehende Rekonstruktion von Situationen durch Konstellationen ist nach meiner Überzeugung die legitime und unentbehrliche Grundform menschlicher Orientierung; ich selbst versuche nichts anderes. Wogegen ich mich wende, bitte ich unter ((43)) nachzulesen; es ist der Konstellationismus, der über den Konstellationen die Situationen vergißt oder verleugnet, und als seine verhängnisvolle Ausgeburt der Projektionismus. Die Einstellung, die zur naturwissenschaftlichen Arbeit gehört, wird von mir nicht angefochten; wenn allerdings Lembeck in ((5)) durch „philosophische Einsicht in die Korrelation von Einstellungsqualitäten und Weltkonzepten" das naturwissenschaftliche Weltbild im von mir angegebenen Sinn legitimieren will, macht er seine Phänomenologie zum Bütte] einer Hybris, die die von mir unter ((49)) skizzierten Verhängnisse heraufführt, Die Menschen mögen sich die Welt mit diesen oder jenen Konzepten zurechtlegen, aber das entbindet sie nicht von der Pflicht, gegenüber ihren Einstellungen ein kritisches Auge zu bewahren, und es ist Aufgabe der Philosophen, sie darauf hin-zuweisen.

((30)) Seltsam verwirrend sind in ((6)) Lembecks abfällige Darlegungen meiner phänomenologischen Methode. Er unterstellt mir eine „Strukturanalyse binnendiffuser Situationen", während ich in ((45)) betone, daß bei Situationen — anders als bei Konstellationen — die Strukturanalyse an eine Grenze kommt. Dann liest er aus ((45)) heraus, daß die Explikation von Bedeutungen mit unbeschränkter Allgemeinheit nicht zur Aufgabe phänomenologischer Strukturanalyse zähle, sondern erst im Zuge der Rechenschaftsablegung eines sich anschließenden Denkens relevant werde. Weder in ((45)) noch an anderer Stelle meines Thesenpapiers steht so etwas. Kurios finde ich, daß Lembeck mir eine Bilderbuchphänomenologie vorwirft, die nur schildern wolle, „was es alles so gibt" — mir, dem Verfasser eines über 5000 Seiten langen Werkes System der Philosophie, dessen ganze Leidenschaft der konvergenten Integration aller phänomenologischen Einzelanalysen gilt.

((31)) Ernst nehme ich einige Andeutungen unter ((5)) und ((6)), die man so verstehen kann, als wolle Lembeck Ansprüche Husserls gegen mich in Stel- lung bringen. Er verrnißt in meinem Thesenpapier „methodologische Reflexionen" über „Probleme phänomenologischen Erkenntnis- und Geltungsanspruchs", wobei ihm „der universale Anspruch von Antworten" vorschwebt. per Erkenntnisanspruch Husserls war apodiktisch universal, der meinige ist tentativ universal. Der Philosoph darf sich nicht aufs hohe Roß setzen, s. 5. ((5)); eher sollte er die wegwerfende Gebärde in der Frage riskieren, wen denn seine Antworten interessieren könnten, wenn er sie nur an seiner Selbstprüfung bewährt, ohne gleich einen universalen Anspruch apodiktisch zu erheben. Ich würde antworten: erst einmal ihn selbst, sogar dann noch, wenn er sich mit der Bitte um Kritik oder Bestätigung an seine Mitmenschen wendet, denn auch das dient zunächst seiner Selbstvergewisserung. Allgemein wichtig können seine Bemühungen trotz ihres tentativen Geltungsanspruches werden, wenn der Philosoph, gleichsam als Pionier der Selbstbesinnung, exemplarisch Wege zeigt, auf denen andere etwas entdecken können, das ihnen für ihr Welt- und Selbstverständnis bedeutsam wird.

((32)) Husserlianisch ist auch Lembecks Versuch in ((6)), die kategoriale Anschauung und Wesensschau dadurch zu rechtfertigen, „daß darin Emst gemacht wird mit dem Problem der Gegebenheit der Welt als einer — bei aller gestalthaften Varianz—doch stets identischen Welt". Über Identität habe ich mein ganzes Philosophenleben lang nachgedacht; jüngste Frucht ist der Aufsatz „Identität und Einzelheit" (Was ist Neue Phänomenologie73.2). Sie versteht sich nicht von selbst; es gibt unzählig vieles ohne Identität mit etwas. Die Welt, das Feld der freien Einzelheit ist freilich identisch, aber nicht mehr als eines von mehreren Gesichtern, das der Weltstoff — sit venia verbo! — annimmt, und alles andere als ein stabiler Rahmen, s. o. ((20)).

((33)) Im Schlußabschnitt ((7)) dehnt Lembeck seine Abwehr zur summarischen Verwerfung meiner Phänomenologie aus. Als neu erkennt er darin nur eine „Chuzpe" (Verschlagenheit) an, die sich zu ominösen Heilsversprechungen versteige. Mit grollender Rhetorik drückt er in vielen Wendungen seine Verachtung aus. Da ich mich nicht auf dieses Niveau begeben möchte, empfehle ich den Abschnitt allen Liebhabern billiger Polemik als Fundgrube.

((34)) Nachdenklicher bemüht sich BERMES um eine Husserl-Apologie. Er beginnt mit goldenen Worten über die immer neu anzufangende Phänomenologie, um meiner in besonderer Weise „Neuen" einen Seitenhieb zu versetzen. Dagegen setze ich ein drastisches Goethe-Wort aus den Maximen und Reflexionen: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zu Rande." Mich treibt die Sorge, daß die Phänomenologie gleich anfangs sich selbst blockiert hat, weil sie in den Schienen des psychologistisch-reduktionistischintrojektionistischen Paradigmas die unwillkürliche Lebenserfahrung ((5)) verpaßte, und daß diese Blockade anhält, solange der von Husserl gegebene Anstoß die Wurfbahn bestimmt. Noch in ((1)) setzt Bermcs aber zum Thema der unaufhörlich zu erneuernden Phänomenologie einen Kontrapunkt mit der Forderung nach einem „sicheren Fundament", damit man der Erneuerungsbereitschaft „Erfolg versprechen" könne; deswegen will er an Descartes als Patron festhalten. Die-ser Fundamentalismus starker Voraussetzungen ruiniert die phänomenologische Offenheit. Sicherheit kann der Phänomenologe nach meiner Überzeugung nur regressiv gewinnen, indem er seinen binnendiffusen Glauben durch Revision klärt und prüft, aber nicht progressiv, indem er von einem vermeintlichen fundamentum inconcussum aus vorwärts schreitet. Jede Vorgabe verengt den Blick.

((35)) In ((3)) streift Bernies die Philosophiegeschichte, um mich einiger Ungenauigkeiten zu überführen, erklärt diese aber für unerheblich, denn es gehe „nicht um Philosophiegeschichte, sondem um Schmitz selbst". Rührend, daß er sich so um mich sorgt! Aber ich nehme die Geschichte sehr wichtig, als ein Verhängnis, vor dem sich mit klarem Geist nur behaupten kann, wer mit redlicher Sorgfalt darauf eingeht, und werfe daher einen Blick auf die Einwände. Bennes wendet meinen Begriff der Abstraktionsbasis ((2)) nicht so an, wie er gemeint ist. Jede solche Basis läßt gegensätzliche Theorien, Bewertungen und erstrecht Methoden zu. Aristoteles und Berkeley stehen auf der Abstraktionsbasis des psychologistisch-reduktionistisch-introjektionistischen Paradigmas, Berkeley so konsequent, daß er nach perfekter Abschließungder privaten Innenwelten die reduzierte Außenwelt (und damit die Auszeichnung der primären Qualitäten) wegläßt, aber nicht so konsequent, auch alle anderen Innenwelten außer der seinigen abzuschaffen und Solipsist zu werden, Die mittelalterliche Philosophie ist extrem psychologistisch und hürojeknudstisch; bloß der Reduktionismus tritt mit dem Interesse an der (der Macht Gottes überlassenen) Außenwelt zurück.

((36)) Eine Ungenauigkeit wirft mir Bernres in ((4)) auch gegenüber Husserl vor, weil ich dessen „Prinzip aller Prinzipien" in ((5I)) nur mit zwei Zitatfetzen ohne die Worte „in den Schranken, in denen es sich gibt" anführe. Aber die Auslassung ist unschuldig: sie betrifft nicht meinen Einwand, daß alles Hinnehmen „im Licht eines kontingenten, von der jeweiligen Abstraktionsbasis vorgegebenen Verständnisses" steht. Husserl will nur jede Hinzufügung zu dem leibhaft sich Darbietenden ausschließen, genauer zu dem, „als was es sich gibt", wie er sagt. Damit unterstellt er eine eindeutige Gegebenheitsweise, die das reine Hinnehmen von selbst führt. Dagegen richtet sich mein Einwand. Die Schranken des Gegebenseins verbürgen keine Eindeutigkeit des Gegebenseins, die das Verständnis führen könnte.

((37)) Unter ((7)) kommt Bermes auf das für Husserl zentrale Thema der Intentionalität, die er so versteht: „Die Intentionalität ist nicht das Geschäft eines Cowboys, sie bezeichnet vielmehr einen Befund und eine Fähigkeit. DerBefund besteht in der strukturellen Vorgegebenheit von Sinnzusammenhängen, in die das Subjekt verstrickt ist; und die Fähigkeit besteht darin, diese Ordnungen zu reorganisieren und zu erhellen, indem sie zur Gegebenheit kommen." Goldene Worte, ganz in meinem Sinn (wenn ich so etwas auch nicht „Intentionalität" nennen würde), aber ist das noch Husserl? Er konzipiert Intentionalität als Eigenschaft von Akten, die reelle Bestandteile eines Bewußtseins sind, sogar eines Bewußtseinsstromes, der für jeden Bewußthaber („reines Ich") sein eigener ist, gesondert von jedem anderen. Ein solches Bewußtsein halte ich für eine Fiktion, einig mit William James, dem Erfinder der Metapher vom Bewußtseinstrom, der diesen später für das Produkt einer Verwechslung mit dem Atemstrom hielt (Does consciousness exist?, in: W, James, Essays in Radical Empiricistn, London 1912, S. 1-38)

((38)) Damit es nicht scheint, daß ich den Mund zu voll nehme, wenn ich das Husserl angelegene Bewußtsein gleichsam wegwische, will ich ausnahmsweise über die Antikritik hinausgehen und in extremer Kürze — ohne Erläuterung der verwendeten Begriffe, die aus meinen Büchern leicht ersichtlich ist —skizzieren, was ich an die Stelle dieses Bewußtseins setze. An der Quelle befindet sich das effektive Betroffensein, das nicht unbewußt sein kann, weil es dann nicht affektiv wäre. Es beruht auf der Enge des Plötzlichen, das Dauer und Weite zerreißt und Identität, Sein und Subjektivität mitbringt. Diese primitive Gegenwart setzt sich in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikadon zu einem Leben in primitiver Gegenwart fort, das Tiere und Menschen führen. Menschen (mit Fähigkeit zu satzförmiger Rede) werden obendrein einbezogen in die Entfaltung der primitiven Gegenwart in fünf Dimensionen, von denen eine die personale des Eigenen und Fremden ist. Dabei wird der bloß identische Bewußthaber zum einzelnen (d. h. mit der Fähigkeit, die Anzahl einer endlichen Menge um I zu vergrößern, ausgestatteten) personaten Subjekt. Das personale Subjekt lebt ambivalent zwischen entfalteter und primitiver Gegenwart in einer persönlichen Situation, die ihm zugleich Hülle und Partner ist, von ihm aber auch in leiblicher Dynamik und leiblicher Kommunikation unterschritten wird zur Offenheit für widerfahrende vielsagende Eindrücke. Die persönliche Situation. in der unzählige Situationen gleiten und die in Situationen gleitet, wandelt sich lebenslang, in der Auseinandersetzung mit solchen Eindrücken (impressiven Situationen).

((39)) Unter ((9)) weist Bermes meine Auffassung der unwillkürlichen Lebenserfahrung als „kritische Instanz wie das Gewissen" ((38)) zurück, um Husserl gegen meinen in ((5I)) erhobenen Einwand zu schützen. Er hält mir vor, die Lebenserfahrung und die mit ihr verbundenen Phänomene könnten in einem rationalen Verfahren aufgewiesen werden. Ganz meine Meinung! Ich bemühe mich um nichts anderes. Die phänomenologische Revision gilt mir als das berufene rationale Verfahren. Aber auch sie kommt nicht aus ohne eine Abstraktionsbasis, die der Lebenserfahrung etwas antut. Man macht sich etwas vor, wenn man sich einredetet, sich nichts mehr so vorzumachen, daß dagegen nicht die unwillkürliche Lebenserfahrung als kritisches Gewissen gebraucht würde. Den Schluß der Kritik von Bernres kann ich nur als schlechten Witz auffassen: Das Neue der Neuen Phänomenologie soll darin bestehen, daß das Selbst der Selbstreferenz den Namen „Schmitz" bekommt. Solchen Übermut überbietet Bermes mit der ans Ende gesetzten Anmerkung 9: „Wenn die Welt voll von Halbdingen ((17)) wäre, wie Schmitz meint, wäre sie genau so langweilig wie ein Kühlschrank voller Eiswürfel." Mit Verlaub gesagt, zwar nicht Bemies selbst, wohl aber dieser Satz ist einfach dumm. Bermes schießt sich auf das Wort „voll" in ((17)) ein. Was hält er von dem dem Thales zugeschriebenen Satz: „Alles ist voll von Göttern" (Actius Placita 17, 11)7 Wenn es so wäre, wäre die Welt dann auch so langweilig wie ein Eisschrank voller Eiswürfel?

((40)) WIEGERLING hält der Neuen Phänomenologie eine nach seiner Meinung unlösbare Aufgabe vor, die sie sich aufgeladen habe: „Schmitz betont, daß die Phänomenologie in die wissenschaftliche Philosophie gehört ((37)). Zwischen dem, was er aber als unwillkürliche Lebenserfahrung bezeichnet, in der sich letztlich alle Erkenntnis ereignet, und der Darstellung dieser Erkenntnis tut sich allerdings eine kaum überwindbare Lücke auf, die ebenso groß erscheint wie in der Mystik." ((8)) Was ich „unwillkürliche Lebenserfahrung" nenne, habe ich oben unter ((5)) angegeben: „alles, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben." Alles echte affektive Betroffensein, z. B. von Zahnschmerz oder von Liebe, ist von dieser Art. Daß es nur in kultureller Geformtheit, mit entsprechenden Unterschieden zwischen Kulturen, vorkommt, was Wiegerling mir gleichfalls vorhält, ist kein Einwand. Die kulturelle Geforrntheit der Liebe habe ich ausführlich an der europäischen Geschichte nachgewiesen. Mag aber auch die Weise, wie der Schmerz oder die Liebe usw. jemanden packt, noch so sehr durch die zuständlichen gemeinsamen Situationen, in denen er lebt, mitbestimmt sein, das ändert nichts daran, daß der Betroffene sich die Liebe oder den Schmerz oder etwas anderes, das ihm unterläuft oder ihn packt, keineswegs in konstruktiver Absicht zurechtgelegt hat, so daß es sich um ein Stück seiner unwillkürlichen Lebenserfahrung handelt. Die kulturelle Formung vereitelt nicht die Möglichkeit sinnvollen Kulturvergleiches und schließt interkulturelle Invarianten nicht aus. Zur kritischen Instanz wird die unwillkürliche Lebenserfahrung, die im unverstellten Betroffensein das Vertauteste ist, für die phänomenologische Reduktion von einer Abstraktionsbasis aus, auf der dank sprachlicher und geschichtlicher Vorprägung das Unmittelbare immer nur gefiltert für Begreifen und Bewerten zur Verfügung steht. Ein Spalt bleibt immer, ist aber bei geschicktem Umgehen mit ihm asymptotischer Verkleinerung zugänglich. Daran ist nichts Mystisches.

((41)) Unklar ist Wiegerling über die Rolle der Reinheit in der Phänomenologie. Er warnt mich: „Und hier scheint das große Problem von Schmitz zu liegen, daß er nämlich nach einer vermeintlichen Reinheit der Erfahrung strebt, die er aber such und gerade in der leiblich disponierten unwillkürlichen Erfahrung nicht bekommen kann." ((7)) Reinheit von Phänomenen

((41)) ist nichts als säuberliche Herausschälung der Sachverhalte, denen der sich Besinnende jeweils den Glauben an ihm Tatsächlichkeit im Ernst nicht verweigern kann, aus beliebigen Annahmen, wobei aber nie sicher ist, daß solche Reinheit erreicht wird, weil niemand weiß, ob die Weite seiner Betrachtung reicht, um in phänomenologischer Revision alle Gegenm üglichkeiten auszuschöpfen. Auf eine Reinheit des Inhaltes oder der Er• fahreng kommt es dafür nicht an, schon gar nicht als das „Problem, daß sinnliche Daten nie rein gegeben werden können" ((7)). Darüber habe ich keine Belehrung durch Cassirer nötig.

((42)) Eigenartig berühren mich die Versuche von Wiegerling, meinen Standpunkt geschichtlich einzuordnen. Die Nähe zu Klages, Heidegger und Mach ist mir zwar ersichtlich, aber der Monisrnus Machs, der seiner positivistisch gewendeten unio mystica die Subjektivität opfert, liegt mir fern. Ganz abwegig scheint mir die Erörterung, ob ich den Titel eines Phänomenologen beanspruchen darf, nachdem ich der „Bewußtseinsphilosophie" in den Spu• ren Husserls abgeschworen habe. Es wäre fürchterlich, wenn künftig das systematische Bemühen, den festen Boden des jeweils unhintergehbaren Glaubens unter dem Haufen der dem Belieben verfügbaren Annahmen auszugraben, also die Phänomenologie, dem verwehrt werden sollte, der nicht den Illusionen Husserl mit dem Bewußtsein an der Spitze seinen Tribut zollt, Phänomenologie darf nicht Husserl-Scholastik sein.

((43)) PIEPER beginnt sein Plaidoyer für Rückkehr der Neuen Phänomenologie in den Schoß der alten mit hübschen Beobachtungen an meinem Sprachgebrauch im Thesenpapier; sie haben mich amüsiert. Dagegen mißbillige ich seinen Vorwurf. „Erst recht muß die Vorstellung befremden, die neuzeitliche Geschichte der westlichen Welt lasse sich auf philosophische Fehlentwicklungen reduzieren." ((2)) So etwas habe ich nie behauptet. Ich erinnere an meine Bemerkung in ((14)) überdas Christentum, hinter der die breiten Ausführungen in Adolf Hitler in der Geschichte stehen. Wer wollte behaupten, das Christentum lasse sich auf philosophische Fehlentwicklungen reduzieren? Aber freilich hatten solche entscheidenden Einfluß auf die Bahn, die das Christentum der Geschichte gewiesen hat. Falsch gezielt ist auch die Apologie der Aufklärung gegen meine „Ideologieverdächtigungen" in ((7)). Ich bin selbst ein begeisterter Aufklärer, der sich auf Hume beruft ((31)), den „Urphänomenologen" ((34)). Mein Vorbehalt gegen die spezielle Gestalt, die die Aufklärung im 18. Jahrhundert angenommen hat, ist in Adolf Hitler in der Geschichte auf S. 239-242 unter dem Titel „Antike und moderne Aufklärung" formuliert.

((44)) Ab ((9)) bis zum Ende verteidigt Pieper Husserl gegen meine Vorbehalte. Ich freue mich über jede Brücke, die mir zu Husserl gebaut wird, sie muß nur halten. Husserl untemimmt nach Pieper eine „Reduktion (...) auf die Welt in ihrem Rückbezug zur sie bewußthabenden Subjektivität und auf die Subjektivität in ihrer Bezogenheit auf ein Universum von Objekten." Aber leider hat er nicht die Subjektivität in meinem (von Fichte entdeckten, aber schlecht gefaßten) Sinn, die strikte Subjektivität, im Sinn, sondem nur die positionale, cartesischc, vgl. Was ist Neue Phänomenologie? S. 363382 und die breitem Ausführung in meinem Buch Husserl und Heidegger. Das von Husserl mit intentionalen Akten und hyletischen Daten gefüllte Bewußtsein halte ich für eine Fiktion, s. o. ((38)). Daß Husserl sich an ein solches Bewußtsein klammert, ist Ergebnis seiner Einschnürung in den traditionellen Psychologismus laut Punkt ((10)) meines Thesenpapiers. Dieses Korsett produktiv (nicht nur polemisch) zu sprengen, ist Aufgabe der Neuen Phänomenologie, und deshalb kann ich nicht glauben, daß sie gegenüber der Husserrschen eine „deutliche Verengung" bringt, wie Pieper mit der falschen Begründung behauptet, meine Phänomenologie betreffe nur die „vorprädikative Lebenserfahrung" ((11)). Darf ich ihn auf die Bände M./3, 111/4 und IV meines Werkes Syriern der Philosophie hinweisen?

((45)) Besonders ungünstig fällt bei Pieper der Vergleich meiner phänomenologischen Methode mit der von Husserl aus. Jene hat er im Verdacht, „ins Beliebige" zu führen; es sei „überhaupt keine wissenschaftliche Methode spezifiziert" ((11)). Dagegen empfiehlt er Husserls Programm: „Weitreichende philosophische Relevanz gewinnt die Strukturanalyse verdeckter Schichten des Erlebens jedoch erst im Rahmen ausgewiesener Transundeetuiphilosophie." ((13)). Auf dem hohen Roß der Transundeneilphilosophie reitet der Phänomenologe Hesseil'scher Provenienz „frei ins willenlose Netz" (Goethe) der Verstrickung in angemaßte Letztbegründung, die vielmehr Selbstblendung ist. Um dieses Unglück zu vermeiden, deklariere ich Phänomenologie konsequent als empirische Wissenschaft, die an Tiefe und Spannweite hinter der Transzendentalphilosophie aber nicht zurückbleibt, indem sie sich anheischig macht, durch Abstieg zur primitiven Gegenwart die Ermöglichung von Welt, Sein, Identität und Ich (d. h. Subjektivität) aufzudecken. Den Verdacht, der Glaube an Auffindbarkeit von Phänomenen gemäß Nr. ((4I)) meines Thesenpapiers sei ein „bloßes Konstrukt' ((13)), kann ich nicht durch ein Argument widerlegen, sondem nur durch die Tat. Als Beispiel wähle ich gern den Sachverhalt, den mein (mündlicher) Anspruch des Satzes Jetzt erschallt Geräusch" beschreibt, sowie die von Joseph Geyser beschriebene Szene, wo er, auf ein mit schwarzen Lettern bedrucktes, weißes Papier blickend, nicht umhin kann, sich einzugestehen, Bestrehie9n,26dasß.n2i0c2h)t alles einfarbig ist, denn: "Dieses Schwarz hier ist verschieden von diesem Weiß hier." (Auf dem Kampffelde der Logik Freiburg i. Br. 1926, S. 202)

((46)) Pieper schließt mit den Behauptungen: „Die Bruchlinie zwischen einer alten und einer neuen Phänomenologie ist nicht zu erkennen (...). Radikal neu an der Neuen Phänomenologie ist wohl nur das N." Ich ordne mistaätechihalsicgh den vvgern in de mindren Strom einer sowohl alten als neuen Phaenornenologia semper reformanda ein, wenn es mir nur gelingt, nicht nur die Fenster dm von Husserl ihr eingerichteten Gefängnisses zu öffnen, wie schon Heidegger Weg insFreie kein Feldzug folgte, sondern tat-

((47)) Meine Hoffnung, ehe eben angebotene Einordnung könnte gelingen, erhält kräftige Nahrung durch den Aufsatz von SEPP, der meinen Intentionen so nahe kommt, daß ich seine Ausführungen weitgehend als Beitrag zum Verständnis der meinigen empfehlen kann. Für überflüssig halte ich allenfalls die Rangordnung mit Hilfe des Wortes „primär" in folgendem Satz: „Demnach ist Phänomenologie Forschung primär nicht aus dem Grund, weil sie mit einer spezifischen Methodik Spezifisches an irgend welchen Sachen entdeckt, sondern die Zugangsweisen der pluralen phänomenologischen Positionen selbst ins Licht stellt." ((2)) Beides, Selbstklärung und Sacharbeit, gehören nach meiner Überzeugung ohne Vorzug einer Seite vor der anderen zusammen. Schon in System der Philosophie Band III Teil 1 S.I f. habe ich demgemäß herausgestellt, daß die Explikation des eigenen diffus-ganzheitlichen Glaubens zu einzeln prüfbaren Annahmen und die Herausschälung von Phänomenen durch Variation solcher Annahmen Hand in Hand gehen.

((48)) Zur Rechtfertigung fordert mich der Vorwurf von Sepp ((7)) heraus, mein Zusatz „Neue" zu „Phänomenologie" entspringe als „Eingrenzung dem Bedürfnis nach Machtgewinn". Diesen Vorwurf bereitet cr in ((5)) mit dem Hinweis vor, ich nähme neuere Versuche der Husserl-Exegese in der japanischen Phänomenologie und der französischen Alter-Gruppe nicht so ernst, wie Husserl es verdienen könnte. Mein Bemühen einschließlich der Namenswahl wurzelt nicht im Willen zur Macht, sondern in der Sorge, daß Husserl die Phänomenologie zwar auf den Weg gebracht hat, aber auf einen Irrweg, der die unwillkürliche Lebenserfahrung durch die Vorurteile der klassischen europäischen Metaphysik verstellt und den vier Verfehlungen des abendländischen Geistes nach Punkt ((48)) meines Thesenpapiers ausliefert, Ich fürchte, daß der Versuch, solche Mängel durch das „Hineingeheimnissen" von Vertiefungen der von Sepp in 1(5)) angegebenen Art in die Husserl-Exegese auszugleichen, den Schaden vertuscht und dadurch sein Weiterwuchem fördert.

((49)) BREIDBACH zeigt viel Verständnis für das Programm meiner Phänomenologie, objektive Tatsachen in der Perspektive subjektiver Probleme aufzusuchen, erhofft sich aber darüber hinaus eine Synthese der Phänomenologie mit einer mit Geiste Goethes ((8)) zur Subjektivität geöffneten Naturwissenschaft; wenn ich ihn recht verstehe, ist das der Sinn seines Satzes: „Eine umfassende Subjektivität muß diese Objektivität der Wissenschaft mit umgreifen." ((15)) Eine umfassende Subjektivität gibt es nicht. Dafür kann ich mich auf Sepp ((4)) berufen: „Phänomenologische Forschung ist nur so lange neu, als eine Spannung erhalten bleibt zwischen dem philosophischen Anspruch, ein Gesamt zu repräsentieren, und dem Eingeständnis, daß Evidenz stets nur in Bezug auf einen Ort, von dem aus das Gesamt angepeilt wird, erlangt werden kann." Für diese Spannung gibt es zwei konsequente Lösungen: die naturwissenschaftliche und die phänomenologische. Die naturwissenschaftliche Konsequenz besteht in der Beschränkung der Abstraktionsbasis auf einen bequem intermomentan und intersubjektiv identifizierbaren Ausschnitt der Lebenserfahrung mit der von mir skizzierten prognosedienlichen Nachbereitung durch Statistik, Experiment und mathematische Konstruktionen. Die phänomenologische Konsequenz besteht darin, auf einer möglichst weit gespannten Abstraktionsbasis mit klaren Begriffen und prüfbaren Behauptungen nach Sachverhalten zu fahnden, denen der Forscher die Anerkennung als Tatsachen nicht verweigern kann, und dabei die eigene Perspektive zur Bestätigung, Ergänzung oder Korrektur durch Zeugnisse aus anderen Perspektiven offen zu halten. Vor der Phänomenologie ist die Naturwissenschaft dadurch im Vorteil, daß sie sich unbefangen auf intersubjektive Objektivität berufen kann. Vor der Naturwissenschaft ist die Phänomenologie dadurch im Vorteil, daß sie der Selbstbesinnung ergiebige Wege zu den Tatsachen der Lebenserfahrung anbietet, während die Naturwissenschaft blasse Tatsachen über Meßdaten in Konstruktionen verschluckt und aus diesen durch Zwecke geschiente Tatsachen prognostischer Bewährung hervorzaubert. In der Mitte zwischen diesen beiden konsequenten Formen der Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Universalität und Einseitigkeit stehen die „weicheren", von Breidbach in Punkt ((9)) behandelten induktiven Wissenschaften (Psychologie, Soziologie), deren exemplarische Methode nach ((10)) der Fragebogen ist.

((50)) Vor voreiligen Synthesen warne ich. Breidbach ((18)) postuliert einen von der Hirnforschung angebotenen „Phänomenraum", in dem „eine umfassend ansetzende Phänomenologie mit dem so offerierten Datenvorrat umgehen" müsse. Die Daten sind in der Hirnforschung aber nichts als die Basis der Konstruktionen und sogar selbst Konstrukte der zu ihrer Messung benützten, nach physikalischen Theorien konstruierten Apparate. Eine Zusammenarbeit von Phänomenologie und Hirnforschung kann ich mir gut in der Weist vorstellen, daß die Phänomenologie neunpsychologisch interessante Fragestellungen abwirft. Dagegen sind die Ergebnisse phänomenologischer Forschung mit jedem beliebigen Ergebnis der Himforschung vereinbar.

3. Naturwissenschaft

((51)) KANITSCHEIDERS Haupteinwand ist „natürlich der naive und dogmatische Ausgang der Phänomenologie von der Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" ((33)). Ein solcher Ausgang findet nicht statt, vielmehr der Rückgang auf die unwillkürliche Lebenserfahrung im oben unter ((5)) definierten Sinn alles dessen, was Menschen merklich widerfährt, ohne daß sie es sich mit konstruktiver Absicht zurechtgelegt haben. Zweck dieses Rückgangs ist das Ende ungeprüfter Dogmatik in radikaler Vergewisserung über das, was der Prüfende jeweils gelten lassen muß, d. h. welchen Sachverhalten er die Anerkennung ihrer Tatsächlichkeit nicht im Ernst entziehen kann. Davon können die absichtlichen Konstruktionen der Naturwissenschaften so wenig wie z. B. die theologischen ausgenommen werden, und dann zeigt sich, daß sie ihre Glaubwürdigkeit allein der Bewährung bei Prognosen für die „Lebenserfahrung des Alltagsverstandes" verdanken. Das hat Konsequenzen nicht gegen ihre Plausibilität, aber für den Anspruch auf kausale Erklärung dieser Alltagswelt im Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes ((24)). Damit ist keine Opposition gegen die Naturwissenschaft verbunden, wenn diese keine überzogenen metaphysischen Ansprüche stellt und nicht „mit hochfahrendem Stolz auf die Objektivität der vermeintlich bloß noch neutralen Tatsachen" ((33)) „blind für Subjektivität" ((34)) wird. Nie habe ich „die Mathematisierung und die experimentelle Methode" beklagt, schon gar nicht in ((17)), wie Kanitscheider mir vorwirft; ebenso wenig habe ich in ((23)) versucht, „das menschliche Erleben von der Aktivität des Gehirns zu trennen", als ob ich bezweifelt hätte, daß die naturwissenschaftliche Gehirnforschung sehr interessante und hilfreiche Korrelationen zwischen ihrem Objekt und dem Erleben ermittelt hat und sicherlich weiter ermitteln wird.

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