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Hier möchte ich versuchen, das Verhältnis der "topischen Wende" zur Graphentheorie näher zu beleuchten.

Dazu folgende Zitate aus Topisches Sozialsystem (Latka):

Versucht man ein Netz mengentheoretisch zu reduzieren, dann stellt sich vor allem die Frage, aus wie vielen Elementenmengen man es nachzubilden versucht. Den wohl bekanntesten Versuch hat die mathematische Graphentheorie unternommen, in der der Graph (als Pendant zum Netz) als Paar aus Kanten- und Knotenmenge bestimmt wird[75]. Doch der Versuch, ein System auf eine Menge von Elementen und Verbindungen zu reduzieren, wie es häufig auch im Namen der Systemtheorie geschehen ist[76], ist nur eine von vielen möglichen mengentheoretischen Reduktionen. Denkbar ist ebenso eine Reduktion auf genau einen Elemententyp oder auf drei und mehr Elemententypen, so dass in dem Versuch, ein Netz auf eine Knoten- und Kantenmenge zu reduzieren, schon eine doppelte Verkürzung steckt.

Diese doppelte Verkürzung kann noch verstärkt werden, wenn man hinter die Erkenntnisse der mathematischen Graphentheorie zurückgeht. D.h. wenn man schon ein Netz als Menge aus Knoten und Kanten zu fassen versucht, dann muss anerkannt werden, dass Kanten nicht nur das Attribut „existent" oder „nicht existent" haben können, sondern, wie in der Graphentheorie abbildbar, auch ganz verschiedene Attribute. So können Kanten Eigenschaften wie Stärke, Richtung und Zustände haben, welche der Flexibilität des Netzes nahezu keine Grenzen setzen. All dies sind Grundkenntnisse der mathematischen Graphentheorie. Sie sind zu beachten, wenn eine mengentheoretische Reduktion unternommen wird.

Ebenso ist bei der Analyse von Knoten und Kanten zu beachten, dass die den Knoten zugesprochenen Eigenschaften nicht zu weit gefasst werden und dann nicht mehr von einem Graphen gesprochen werden kann. Es muss also verhindert werden, dass ein Knoten bestimmte Eigenschaften besitzt und zusätzlich noch Kanten zwischen diesen Knoten existieren. Mit Hejl kann das Verhältnis von Knoten und Kanten als Verhältnis von Komponenten und Interaktionen wie folgt bestimmt werden.

„Die Eigenschaften, die eine Einheit als Komponente eines Systems charakterisieren, sind diejenigen Interaktionseigenschaften, durch die sie an dem Netzwerk von Interaktionen teilnimmt, das als System aufgefaßt wird."[77]

Nach dieser Definition gilt:

1. Die Eigenschaften, die eine Einheit zu erfüllen hat, damit sie als Komponente eines Systems verstanden werden kann, sind ausschließlich Interaktionseigenschaften, d.h. Eigenschaften, die die Weise bestimmen, wie sich diese Einheit bei eingehendem Input verhält.

2. Es kann ein Netzwerk von Interaktionen beobachtet werden, ohne dass die Interaktionseigenschaften der Komponenten im Einzelnen bekannt sind.

3. Nicht alle Interaktionseigenschaften einer Einheit machen diese zur Komponente eines Systems, sondern lediglich diejenigen, mit denen sie an dem Netzwerk von Interaktionen teilnimmt, das als System aufgefasst wird. Die Interaktionseigenschaften einer Einheit, durch die diese zur Komponente eines Systems wird, sind daher nicht unabhängig von dem beobachteten Netzwerk von Interaktionen bestimmbar.

Doch so sehr man ein Netz ebenso wie eine Kette auch mengentheoretisch bestimmen möchte, und so sehr ein derart reduktionistisches Vorgehen im Einzelfall auch neue Erkenntnisse gewinnen lässt, so sehr darf nicht übersehen werden, dass bei der mengentheoretischen Reduktion immer Wesentliches verloren geht, nämlich genau die schwer zu definierende Gestalt, in der sich Netz und Kette ähneln und unterscheiden zugleich.
(Quelle: 1.1.3.2. Retiver Ansatz: Das System als Netz)

Auch wenn es schon immer Versuche gegeben haben mag, soziale Gruppen als netzhafte Strukturen zu verstehen, so sind explizit netzartige Modelle erst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt worden. Georg Simmel hat sich als einer der Ersten ernsthaft darum bemüht, Gesellschaft weder als Summe von Individuen noch als normative Einheit zu denken, sondern als dynamische Netzstruktur, welche Individuen verwebt. Erst im Anschluss an Simmel hat sich eine ernsthafte Diskussion über den Netzcharakter von Gesellschaft entwickelt, aus der zahlreiche, zum Teil sehr unterschiedliche Ansätze hervorgegangen sind. Zunächst sind die gestalttheoretischen und feldtheoretischen Ansätze rund um Kurt Lewin, Fritz Heider und Jacob Moreno zu nennen. Gerade Moreno[336] schaffte es mit seinem Soziogramm, die metaphorische Rede vom Netz wissenschaftlich zu fundieren:

„Before Moreno, people had spoken of ‚webs' of connection, the ‚social fabric' and, on occasion of ‚networks' of relations, but no one had attempted to systematize this metaphor into an analytical diagram."[337]

Auch wenn netzhafte Sozialmodelle weniger als Beiträge zur formalen Soziologie entstanden, sondern eher als methodologische Bemühungen zur Aufbereitung von Untersuchungsergebnissen, haben sich die netzhaften Sozialsystem-Modelle auch in der Soziologie mehr und mehr etabliert, nicht zuletzt durch Fortschritte in der mathematischen Graphentheorie, die einiges zur Verwissenschaftlichung der Modelle beigetragen hat.

Ein weiterer Ansatz, von netzhaften Sozialmodellen zu sprechen, geht von der strukturell-funktionalen Anthropologie Radcliffe-Browns aus. Dort wurde die Metapher des Netzwerks als System sozialer Beziehungen eingeführt und vor allem in den 50er Jahren von der Manchester-Schule der britischen Sozialanthropologie wissenschaftlich präzisiert.

„Each person is, as it were, in touch with a number of people, some of whom are directly in touch with each other and some of whom are not. [...] I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network. The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other."[338]

Im Unterschied zu Parsons, der sich mit einem einfachen netzhaften Sozialsystem-Modell nicht zufrieden gibt, sondern die Gesellschaft auf ihrer Makroebene als ein System aufeinander bezogener Normen modelliert, wird in der Manchester-Schule auf eine normative Integration als Modell verzichtet. Normen werden in der netzwerkanalytischen Schule daher nicht als etwas betrachtet, was soziales Handeln erklärt, sondern als etwas, was aus der Position von Individuen in Netzwerken sozialer Beziehungen entsteht. Ebenso wenig wie allein persönliche Merkmale von Individuen als konstitutiv für das Netzwerk betrachtet werden, werden in der netzwerkanalytischen Schule Normen zur Erklärung von Handlungen herangezogen. Vielmehr orientiert man sich an dem Durkheimschen Begriff der sozialen Struktur und betrachtet das Netzwerk der sozialen Beziehungen als einen dem individuellen Bewusstsein unbewussten Sachverhalt, der sich auf das individuelle Handeln auswirkt.[339] Vor allem methodische Ausarbeitungen haben diese netzhaften Sozialmodelle Anfang der 70er Jahre durch die sog. Harvard-Strukturalisten um Harrison C. White erfahren, welche sich zunehmend mathematischer Verfahren bedienen und damit zu einer Formalisierung der Netzmodelle beitragen.

Diese Bemühungen mündeten in die heutige Netzwerkanalyse (social network analysis), wie sie von den Mitarbeitern Whites und seinen Schülern auch in angrenzenden Disziplinen vertreten wird. Als Vorlage für eine Theorie sozialer Systeme dient sie vor allem für Colemann, der als methodologischer Individualist eine Theorie sozialer Systeme entworfen hat, die im angelsächsischen Sprachraum die systemtheoretische Diskussion dominiert.

Im deutschsprachigen Raum ist der Bezug zur netzwerkanalytischen Schule relativ schwach ausgeprägt, was daran gelegt haben mag, dass hierzulande mit Luhmann die Dominanz des operativen Systemmodells derart ausgeprägt war, dass nur Raum für eine seitliche Absetzungsbewegung geblieben ist, wie sie insbesondere von Peter M. Hejl und Jürgen Kriz in der jüngeren Zeit unternommen wurden. Im Folgenden soll ein Abriss dieser Versuche dargestellt werden, um sie anschließend mit der netzwerkanalytischen Schule zu verbinden.
(aus: 2.1.2. Retive Sozialsystem-Modelle)

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